Putin unweigerlich vor Konflikt mit Russlands „Eliten“? Experten warnen aber auch den Westen

Putin läuft offenbar Gefahr, die russische Elite zu enttäuschen. Der Rückgriff auf extreme Nationalisten ist laut US-Kriegsexperten nur eine kurzfristige Lösung.
Washington, DC - Wird es angesichts der jüngsten militärischen Rückschläge einsam um Wladimir Putin? Berichte darüber mehren sich. Auch eine aktuelle Analyse zum Ukraine-Krieg der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) vom Dienstag weist in diese Richtung. Allerdings warnen die Kriegsexperten den Westen davor, den Kremlchef zu unterschätzen.
Russlands Militär und Putins Ziele: Eine Kluft, „zu groß für jede Propaganda“
Zuletzt war zu lesen, der Kremlchef habe offenbar aufgehört, sich mit seinen Ministern zu beraten und erteile Befehle direkt an die Front. Auch die Unterstützung der Vertrauten des Kremlchefs schwindet offenbar. Eine Meinungsverschiedenheit im innersten Kreis der russischen Elite schaffte es Anfang Oktober sogar ins tägliche Geheimdienst-Briefing von US-Präsident Joe Biden. Diesen Informationen zufolge hatte jemand aus dem engsten Umfeld des russischen Präsidenten die Kriegsführung kritisiert. Der Chef der Wagner-Truppe, Jewgeni Prigoschin, übte kürzlich auch ganz offen Kritik.
Die US-Kriegsexperten des ISW erkennen in ihrem aktuellen Bericht erneut Indizien dafür, dass Putin auf dem besten Weg sei, die russische Elite zu enttäuschen: Die extremen Nationalisten im Land erwarteten einen „totalen Sieg“ in der Ukraine, den der Kremlchef offenbar nicht liefern kann. „Er ist auch auf dem besten Weg, Kernbestandteile seines Regimes zu enttäuschen, die aus egoistischen und ideologischen Gründen ein mächtiges Russland wollen“, urteilten die Experten. Zwischen Putins Ziel, die Ukraine zu kontrollieren, und der militärischen Stärke Russlands klaffe eine Lücke. Diese Kluft sei „zu groß für jede Propaganda“, so der Bericht weiter. Denn Russland müsse Fehler der letzten 20 Jahre beheben – nicht nur Verfehlungen der letzten acht Monate seit Kriegsbeginn.
Putin im Ukraine-Krieg nicht unterschätzen: US-Kriegsexperten warnen Westen
Auch wenn die Unterstützung in Putins Machtzirkeln laut Analyse der ISW-Kriegsexperten abnehme, mache das den Kremlchef aber nicht unmittelbar verwundbar. „Westliche Führer sollten weder Putins Fähigkeit unterschätzen, sein Regime oder das russische Volk ‚auf Linie‘ zu bringen, noch Russlands Fähigkeit, eine neue ‚schlimmere Realität‘ zu normalisieren.“ Putin setze auf einen kleinen Kader hochgradig ergebener Anhänger in seinen Machtkreisen, die seine „maximalistischen Ziele“ in der Ukraine teilen, sowie auf eine schweigende Mehrheit in der russischen Bevölkerung.
Die Taktik des Kremlchefs bestehe nun darin, seine zentralen Ziele und Narrative zu stärken. Er verspreche die vollständige Kontrolle über die Ukraine, die Aufrechterhaltung eines starken, zentralisierten Russlands und den „Sturz der westlichen Hegemonie“. Gleichzeitig hieve Putin extreme Nationalisten ins Rampenlicht, die tatsächlich oder scheinbar willens seien, die Ziele des Kremlchefs in der Ukraine zu verfolgen. Darunter etwa Hardliner wie Jewgeni Prigoschin oder der Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow. Zwar sei der langfristige Nutzen und die Loyalität der beiden Nationalisten fraglich, so die US-Kriegsexperten. Doch kurzfristig diene das unter anderem dazu, mehr Kämpfer für den Ukraine-Krieg zu beschaffen und die Nationalisten in Russland auf Linie zu halten.
Putin will laut ISW Unterstützung extremer Nationalisten – aber nicht um jeden Preis
Der russische Präsident will sich zwar die Unterstützung der extremen Nationalisten sichern, doch offenbar nicht um jeden Preis: „Putins Entscheidung, einigen Forderungen der extremen Nationalisten nicht nachzugeben, einschließlich der Aufforderung, mehr Militärs zu entlassen, zeigt, dass er versucht, die Unterstützung verschiedener Fraktionen seiner Basis aufrechtzuerhalten“, so der ISW-Bericht weiter.
Ein militärisches Scheitern Russlands hätte allerdings die Konsequenz, dass der Präsident gezwungen wäre, sich mehr auf die innenpolitischen Probleme des Landes zu konzentrieren. Insofern fordert das ISW, der Westen müsse der Ukraine helfen, Russland auf dem „Schlachtfeld schneller scheitern zu lassen“. Die täglichen Lageberichte der Analysen des ISW sind aus einer US-amerikanischen Perspektive verfasst. Der Schweizer Sicherheitsexperte Marcel Berni etwa geht davon aus, dass die Denkfabrik mit Sitz in den USA „Interesse habe, die Ukraine zu unterstützen.“ (bme)