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„Bewusste Taktik“: West-Experten sehen zwei Gründe für Putins Waffenpause – und ein Problem

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Von: Florian Naumann

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Ukraine-Krieg:  Putin, Schoigu und Gerassimow stehen nach einer Sitzung des Verteidigungsministeriums zusammen.
Aufnahme vom 21. Dezember: Gerassimow, Putin und Schoigu (v.l.) © Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool/Imago

Steckt hinter Wladimir Putins Waffenruhe Kalkül? Experten aus dem Westen sehen zwei bis drei mögliche Gründe. Und ein klares Indiz für eine „Finte“.

Moskau/Washington, D.C. – Russland hat im Ukraine-Krieg eine kurze Waffenruhe über das orthodoxe Weihnachtsfest angekündigt. Am Freitag (6. Januar) um 10 Uhr mitteleuropäischer Zeit ist sie formal in Kraft getreten. Noch in der Nacht auf den 6. Januar gab es offenbar heftige Artillerie-Angriffe – unterdessen beschäftigt die politischen Beobachter eine andere Frage: Steckt Kalkül hinter dem Schritt? Und wenn ja: Welches?

Für die Ukraine war der Fall schnell klar. Vor einer „zynischen Falle“ warnte Präsidentenberater Michailo Podoljak. Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst vermutete eine Ausrede Russlands, um sich Zeit zur Regruppierung zu verschaffen. Experten des Institutes for the Study of War (ISW) sehen gar mehr mehrere Bedeutungsebenen. Die Thesen des Westens im Überblick:

Warum greift Putin im Ukraine-Krieg zur Waffenruhe?

Pause zur Neuaufstellung: Putin könnte die 36-stündige Waffenpause nutzen, um den russischen Truppen Zeit für Ruhe, Erholung und Neuausrichtung für weitere Offensiven an „kritischen Frontabschnitten“ zu verschaffen, mutmaßte das ISW. Eine solche Pause würde dem russischen Militär überproportional nutzen und der Ukraine die Initiative rauben, urteilten die Experten.

Auch US-Präsident Joe Biden wertete die von Putin angeordnete Waffenruhe als Versuch, sich eine Atempause zu verschaffen. Putin sei am 25. Dezember und Neujahr dazu bereit gewesen, „Krankenhäuser und Kindergärten und Kirchen zu bombardieren“, sagte Biden am Donnerstag in Washington. „Ich denke, er versucht gerade, sich etwas Luft zu verschaffen“, sagte Biden.

Waffenruhe in der Ukraine: „Wahrer Beschützer des Glaubens“ – Putins Kalkül?

Öffentlichkeitswirksamer Schachzug: Auch einen auf die Öffentlichkeit gerichteten Zug vermutete das ISW. Es handle sich um eine „bewusste Informationstaktik“, auf die Russland schon zuvor zurückgegriffen hatte, hieß es im Lagebericht vom 5. Januar (US-Zeit). Ein Indiz sei, dass der Schritt erst kurzfristig angekündigt wurde – obwohl das Datum des orthodoxen Weihnachtsfestes natürlich lange im Voraus bekannt gewesen sei. Eine Waffenpause umzusetzen, verlange Vorbereitung, auch von der Ukraine. Noch am 14. Dezember habe Kreml-Sprecher Dmitri Peskow aber eine Waffenruhe ausgeschlossen.

Ziel sei es nun wohl, die Ukraine als verhandlungsunwillig und kampfesdurstig darzustellen. Auch eine weitere Dimension sah das ISW: Putin könne sich nun als „wahrer Beschützer des christlichen Glaubens darstellen“ – im Gegensatz zur Ukraine, die nach Kreml-Darstellung religiöse Freiheiten unterdrücke. Die orthodoxe Kirche ist einer der wichtigsten innenpolitischen Verbündeten Putins. Patriarch Kirill hatte kurz vor der Ankündigung öffentlich einen Frieden über Weihnachten gefordert. Schon im Herbst hatten kremltreue Stimmen „den Satan“ in der Ukraine verortet. Passend dazu wetterte der Putin-Vertraute Dmitri Medwedew am Freitag gen Westen und Ukraine: „Sie haben keinen Glauben“.

Auch der deutsche Militär-Experte Carlo Masala sah eine „Finte“. Es sei „sicherlich eine Kommunikation nach Russland hinein, dass man das orthodoxe Weihnachtsfest respektiert“, erklärte er im ZDF-„heute journal“. Zugleich liefere der Kreml damit auch Kritikern der westlichen Waffenlieferungen neue Argumente.

„Angesichts der Tatsache, dass eine große Anzahl von Bürgern, die sich zur Orthodoxie bekennen, in den Kampfgebieten lebt, fordern wir die ukrainische Seite auf, einen Waffenstillstand zu erklären und ihnen die Möglichkeit zu geben, an Heiligabend sowie am Tag der Geburt Christi an Gottesdiensten teilzunehmen.“

Die Erklärung des Kreml zur 36-stündigen Waffenruhe über das orthodoxe Weihnachtsfest

Waffenruhe im Ukraine-Krieg: Putin könnten Probleme drohen – Ukraine stellt klare Forderung

Drohen Putin Probleme? Überraschen könnte zugleich, dass russische Militärblogger den Schritt heftig kritisierten. Dem ISW zufolge setzte unter anderem ein zuvor bei den russischen Truppen im umkämpften Bachmut „eingebetteter“ Blogger eine wütende Tirade ab. Die russischen Soldaten wollten keine Pause, hieß es dort: Diese wollten „jede Person in der Uniform des Gegners töten, unabhängig von Geschlecht und den Umständen, die diese Untermenschen in diese Uniform gezwungen hat“. Ein Schlaglicht ist das wohl auch auf den Umstand, dass Putin mit Kritik von zwei Seiten kämpft – von Kriegsgegnern und Hardlinern, die massivere Schläge im Krieg fordern.

Unklar ist auch, ob die Waffenruhe ihre kurze Dauer von 36 Stunden überstehen wird. Von Moskau eingesetzte Politiker in den besetzten Gebieten der Ukraine machten deutlich, dass sie im Zweifel bereit seien, zu schießen. Die Anordnung Putins betreffe nur Angriffshandlungen von russischer Seite. „Das bedeutet nicht, dass wir nicht auf Provokationen des Gegners antworten werden! Oder dem Feind auch nur irgendeine Chance geben werden, während dieser Feiertagsstunden seine Positionen an der Frontlinie zu verbessern“, schrieb der von Moskau eingesetzte Statthalter in Donezk, Denis Puschilin am Donnerstag in seinem Telegram-Kanal.

Die Forderungen der Ukraine: Wäre Kiew prinzipiell zu einer Waffenruhe bereit? Wohl nicht im engeren Sinne. Das Land sieht nur einen (einfachen) Weg zu einem Schweigen der Waffen: Präsidentenberater Podoljak forderte, Russland müsse „die besetzten Gebiete verlassen - nur dann wird es eine ‚vorübergehende Waffenruhe‘ geben.“

Ähnlich sieht es die Europäische Union. EU-Ratschef Charles Michel bezeichnete Russlands Ankündigung einer Waffenruhe als heuchlerisch. „Ein Rückzug der russischen Truppen ist die einzige ernsthafte Option, um Frieden und Sicherheit wiederherzustellen, schreib er am Donnerstag auf Twitter.

Deutschland liefert der Ukraine nun Schützenpanzer. Ein Militärexperte äußert sich zu Nutzen und Eskalationsgefahr. Weitere Forderungen könnten folgen. (fn)

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