Whistleblowerin zerlegt Russen-Armee und packt über Putins Putsch-Angst aus: „Kann jeden Tag passieren“

Eine russische Whistleblowerin berichtet von den Vorgängen im Kreml und in Russland. Ein Putsch gegen Wladimir Putin scheint ihr zufolge jeden Tag möglich zu sein.
Paris - Mehr als acht Monate seit dem Beginn des eskalierten Ukraine-Konflikts packt jetzt eine russische Whistleblowerin aus. Maria Dmitrieva war über den Zeitraum von sechs Jahren im russischen Innenministerium und im Verteidigungsministerium tätig. Die Insiderin hat gegenüber dem Tagesspiegel über den Zustand der russischen Armee im Angriffskrieg gegen die Ukraine gesprochen. Die Ärztin, die unter anderem im Krankenhaus des russischen Innenministeriums arbeitete, sucht nun in Frankreich politisches Asyl.
Ukraine-Krieg: „Die russische Armee gibt es schon nicht mehr“
Dmitrieva zufolge gäbe es innerhalb des Militärs und des russischen Geheimdienstes FSB Machtkämpfe. Der russische Präsident Wladimir Putin fürchte sich davor, dass sich Gegner seines Krieges gegen ihn stellen könnten. „Die russische Armee gibt es schon nicht mehr“, meint die Whistleblowerin. Gerade außerhalb der Großstädte, wo die Bürger häufig in deutlich prekäreren Umständen leben, herrsche Unzufriedenheit: „Es haben sich jetzt Partisanengruppen gebildet, deshalb sehen wir jeden Tag Sabotageakte und Angriffe auf die Mobilisierungszentren. Es ist unmöglich, alles einzudämmen“, sagt Dmitrieva dem Tagesspiegel.
Ukraine-Krieg: Russischen Soldaten werden Waffen und Ausrüstung vorenthalten
Dass Putin Angst vor einem Putsch habe, sei allen bewusst. Aus diesem Grund habe der russische Präsident am 10. Oktober einige Schritte eingeleitet. Zum einen wurde Sergej Surowikin zum Oberbefehlshaber der Armee berufen. Des Weiteren wurden der Tschetschenen-Führer und Putin-Vertraute Ramsan Kadyrow und der Wagner-Gründer Jewgeni Prigoshin damit beauftragt, gegen aufmüpfige Gruppen in der russischen Armee vorzugehen: „Die Unzufriedenheit wächst täglich, und ein Putsch ist jederzeit möglich. Es kann jeden Tag passieren. Dass Putin davor Angst hat, weiß praktisch jeder. Dazu sind Kadyrows Truppen in Moskau“.
Um Kadyrows und Prigoshins Erfolg zu gewährleisten, würden alle finanziellen Mittel auf ihre Einheiten aufgebracht werden. Den frisch rekrutierten Soldaten, die unter anderem im Rahmen der Teilmobilmachung rekrutiert wurden, werden in Teilen Waffen, Ausrüstung und Lohn vorenthalten.
Ukraine-Krieg: Russland verwendete wohl Lungenkampfstoff
Durch ihre Arbeit habe Dmitrieva von befreundeten Mitarbeitern vom Militärnachrichtendienst GRU und Patienten erfahren können, dass es an der Front sehr hohe Verluste auf russischer Seite gebe: „Es ist ein offenes Geheimnis beim FSB, dass die Zahlen gefälscht und niedriger angegeben werden, als sie wirklich sind“, so Dmitrieva.
Die russische Armee habe im September zusätzlich zum sogenannten Lungenkampfstoff Chlorpikrin gegriffen. Die Waffe sei im September im umkämpften Cherson eingesetzt worden. Chlorpikrin könne zu schweren Verletzung führen, die tödlich enden. Mithilfe von einer Drohne habe man den Stoff eingesetzt, beteuerte die Insiderin gegenüber dem Tagesspiegel. Die ukrainischen Ärzte hätten jedoch sehr gut auf den Einsatz reagiert. Diese Angaben lassen sich allerdings wie so häufig im Krieg nicht unabhängig überprüfen. (lp)