Russland und Nato leeren ihre Arsenale – „Da läuft ein Rennen im Hintergrund“
Im Kampf gegen Russland wird die Ukraine vom Westen zunehmend mit Waffen und Munition unterstützt. Das Resultat: Insbesondere Europa muss aufrüsten – und das schnell.
Washington D.C./Moskau – Während der Westen die Ukraine mit Waffenlieferungen und Leopard-Panzern unterstützt, leeren sich zunehmend die heimischen Rüstungskammern. Die USA mussten zuletzt auf Depots der US-Streitkräfte in Israel und Südkorea zurückgreifen. Für Washington erfordert dies logistisches Geschick und Diplomatie: Denn auch wenn die gelagerte Munition US-Eigentum ist, wird diese eigentlich für mögliche Konflikte im Nahen Osten und Asien vorgehalten. Parallel gerät Deutschland aufgrund der wachsenden Abgaben in Bedrängnis.
„Dass sich die Waffen- und Munitionsbestände leeren, ist definitiv ein Problem“, sagte Marcel Berni, Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich. Weil vor allem die russische Armee während der ersten Kriegsmonate extrem viele Reserven verbraucht haben soll, bestehe das Problem „für beide Seiten“. Zuletzt musste Moskau auf Lieferungen aus Nordkorea und dem Iran ausweichen. „Jetzt läuft ein Rennen im Hintergrund, bei dem es darum geht, wer schneller nachproduzieren kann“, sagte Berni im Gespräch mit blick.ch.
Doch im Gegensatz zu Europa, welches einen Krieg auf dem eigenen Kontinent jahrelang für quasi unmöglich hielt, orientierte sich Moskau längst um. Während der Kreml nach ersten Sanktionen infolge der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion im Jahr 2014 die Aufrüstung priorisierte, hat sich die europäische Rüstungsindustrie – inklusive der deutschen – auf weltweite Exporte konzentriert. Die Ironie: Russland profitierte nun von den zahlreichen Exporten.

Russland profitierte von den westlichen Rüstungsexporten – auch dank der Türkei
Einem im August 2022 veröffentlichten Bericht des Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) zufolge wurden bereits vor Kriegsbeginn große Mengen an westlichen Elektronikbauteilen nach Russland importiert. Zuvor sei ein Großteil der Ware in die Türkei geliefert und dort umgeschlagen worden – viele russische Geschäftsleute sollen eigens dafür Firmen in der Türkei gegründet haben. „Ohne westliche Technologie könnte die russische Armee den Krieg gegen die Ukraine nicht so führen, wie sie es seit Monaten tut“, sagte RISU-Experte James Byrne dem RND.
Wer glaubt, dass Konzerne aus Deutschland davon nichts gewusst haben, liegt laut Byrne falsch: Gleich mehrere deutsche Unternehmen hätten in den vergangenen Monaten die Türkei als Drehscheibe für Exporte nach Russland genutzt. Insbesondere „entscheidende Teile vieler Raketen kommen aus dem Westen“, sagte der Experte. Aus dem Osten – speziell aus Nordkorea und China – soll es weitere Bauteile oder gar Waffen für Putins blutigen Krieg geben.
Zwar hat der Kreml noch nicht offiziell das Kriegsrecht ausgerufen und damit die Wirtschaft endgültig in den Kriegsmodus versetzt. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass das aber ohnehin nichts ändern würde. In russischen Rüstungsbetrieben werde bereits seit Monaten „rund um die Uhr“ gearbeitet, wie es in einem Bericht des MDR heißt.
Exporte statt eigene Aufrüstung: Westen hatte „kaum Absichten, große Reserven aufzubauen“
Beinahe ein Jahr nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, scheint der Westen jedoch das Tempo anzuziehen und Wladimir Putin mit der Panzer-Zusage den Kampf anzusagen. „Im Jahr 2022 war das Ziel, genügend Material zu liefern, damit die Ukraine den Krieg nicht verliert. Im Jahr 2023 besteht das Ziel darin, genug Material zu liefern, damit die Ukraine gewinnen kann“, sagte Marcel Berni. Aus dem Hut zaubern ließe sich das nötige Material aber nicht, da es „im Westen kaum Absichten gab, große Reserven an Munition und Rüstungsgütern aufzubauen“.
„Es spiegelt die Tatsache, dass die USA und die Europäer sich in den vergangenen 20 Jahren nach den Terroranschlägen vom 11. September vor allem auf nicht-konventionelle Konflikte konzentriert haben, wie den Kampf gegen Terroristen oder Aufständische im Irak oder Afghanistan“, sagte Max Bergmann vom Zentrum für Strategische und Internationale Studien (CSIS) zu tagesschau.de. Bergmann zufolge muss Europa die Produktion steigern und sich auf die eigenen Notwendigkeiten konzentrieren.
Es stellt sich die Frage, was wäre, wenn weitere europäische Länder mit in den Ukraine-Krieg hineingezogen würden – oder auch in einen anderen, künftigen. Daher brauche es eine Neuausrichtung, erklärte Bergmann: „Offen gesagt, dazu sind Investitionen nötig. Dazu müssen Deutschland, die Europäische Union, andere europäische Länder nicht nur ihre Verteidigungsausgaben erhöhen, sondern sich auf das Richtige fokussieren.“ (nak)