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Russlands Rückzug aus Cherson: Experte prognostiziert Chaos und sieht vier Probleme

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Von: Bettina Menzel

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Mobilisierte Reservisten der russischen Armee bei einer Übung in unmittelbarer Nähe zur Front. Nun wollen sich die russischen Truppen womöglich hinter den Fluss Dnepr zurückziehen (Archivbild 1. Oktober). © IMAGO/Stanislav Krasilnikov / ITAR-TASS

Ein Rückzug im Krieg muss kein Vorbote einer Katastrophe sein, meint Militärexperte Mick Ryan - doch bei den russischen Truppen in Cherson könnte es „chaotisch verlaufen“.

Kiew - Die pro-russischen Behörden riefen im Ukraine-Krieg am Samstag alle Zivilisten dazu auf, die südukrainische Stadt Cherson „sofort“ zu verlassen. Kriegsexperten gehen davon aus, dass sich auch die russischen Truppen aus dem Gebiet zurückziehen wollen. Aus Sicht des Analysten und ehemaligen Generals Mick Ryan ist ein solcher Rückzug zwar keine Katastrophe, aber schwierig - und könnte in Cherson mit Problemen für Russland verbunden sein.

Fehler beim Rückzug kann Verlust der gesamten Truppe zur Folge haben

Noch im September hatte Wladimir Putin seinen Generälen den Rückzug aus Cherson verboten. Am Samstag (22. Oktober) gab es nun Berichte über eine russische Truppenbewegung, die auf einen Rückzug aus der Region hindeuten könnte. Die Evakuierung von Zivilisten könnte mit den Plänen der Russen einhergehen, den Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka zu sprengen, um so ihre Bewegungen zu verdecken, hieß es etwa vonseiten der Kriegsexperten der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW).

Ein Rückzug sei kein Vorbote einer Katastrophe, sondern eine Routinetaktik in der Kriegsführung, stellte der Analyst und ehemalige General Mick Ryan am Sonntag auf Twitter fest. Die Gründe könnten vielfältig sein, etwa wegen Schwierigkeiten bei der Versorgung oder wenn es andere Aufgaben mit höherer Priorität für die Truppen gebe.

Ein erfolgreicher Rückzug erfordere jedoch immer hervorragende Planung und Koordination, die von guter Führung untermauert sein müsse. Man müsse sich im Klaren sein, „dass ein Fehler den Verlust der gesamten Rückzugstruppe zur Folge haben kann.“ Der Militärexperte glaubt, dass „entschlossene, aggressive ukrainische Bodentruppen“ den Russen in Cherson auf den Fersen sein werden. Die Ukrainer seien bestrebt, am Westufer des Flusses Dnepr einen möglichst großen Teil der russischen Streitkräfte auszuschalten oder gefangenzunehmen. Dies wäre aus Sicht des Militärexperten Mick Ryan ein „bedeutender strategischer Erfolg“.

Rückzug der russischen Truppen: Zivilisten als menschliche Schutzschilde?

Bei einem Rückzug sei die Täuschung unerlässlich, so Mick Ryan. Eine Rückzugabsicht sei allerdings schwer zu verheimlichen. Als klassische Strategien nennt der ehemalige General beispielsweise die Simulation normaler Aktivitäten oder verstärkte Feuerunterstützung. Für die russischen Truppen am Fluss Dnepr sei dies schwierig umzusetzen, aber nicht unmöglich.

Auch die Reihenfolge des Rückzugs sei für die russischen Streitkräfte von entscheidender Bedeutung. „Dazu gehört, wann und wie die logistischen Vorräte, das Hauptquartier, die Aufklärungselemente und die Bodenkampftruppen evakuiert werden sollen. Dies hängt davon ab, wo und in welcher Stärke der Feind die zurückzuziehende Truppe bedrängt“, analysierte Ryan weiter.

Das dritte Problem Russlands sei, die Fähigkeit der Ukrainer zu stören, den Abzug zu behindern, meint der Militärexperte. „Wir sollten damit rechnen, dass die abziehenden Russen verstärkt Luftabwehr, Störsender und Artillerie einsetzen und auch mehr Luftunterstützung erhalten. Möglicherweise werden sie auch Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzen“, warnte Ryan.

Rückzug der russischen Streitkräfte könnte „chaotisch verlaufen“

Zuletzt sei eine entsprechende Führung und Kontrolle des geordneten Rückzugs in der geplanten Reihenfolge wichtig. Es gehe darum, dass die Einheiten ihre Verteidigungspositionen nicht zu früh verlassen, so der Analyst. Dafür sei eine gute Disziplin erforderlich. Denn die Position müsse bis zum vereinbarten Zeitpunkt gehalten werden. „Dies kann sehr schwierig sein, wenn eine starke Neigung besteht, sich früher als im Plan vorgesehen zurückzuziehen.“ Je kleiner die verbleibenden Truppen seien, desto eher breche diese Disziplin zusammen.

„Die russische Führung auf dem Schlachtfeld und die Disziplin war in diesem Krieg nicht besonders gut“, fasst Ryan zusammen und schlussfolgert daraus: „Wir können davon ausgehen, dass die späteren Phasen ihres Rückzugs chaotisch verlaufen werden.“ Generell strebe man bei einem Rückzug immer einen sogenannten „Clean Break“ - also einen „klaren Schnitt“ - an. Die russischen Truppen müssten sich demnach so zurückziehen, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht in der Lage seien, sie zu verfolgen. Der Dnepr-Fluss spiele hier eine entscheidende Rolle.

Experte: Es könnten mobilisierte Reservisten zum Einsatz kommen, „um zu sterben“

Der Schlüssel zu einem „klaren Schnitt“ sei eine effektive Nachhut, die feindliche Verfolgung verhindere. „Ich gehe davon aus, dass die Nachhut der Russen aus gepanzerten und berittenen Infanteriekräften bestehen wird.“ Diese Kräfte könnten sich schnell bewegen. Es könnten jedoch auch neu mobilisierte Reservisten zum Einsatz kommen, „um zu bleiben, zu kämpfen, zu verzögern und zu sterben, um Zeit für den Rückzug zu gewinnen.“ (bme)

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