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„Cancel Culture canceln“: Putin-Medium feiert Umfrage in Russland – doch die Daten werfen Fragen auf

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Von: Florian Naumann

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Wladimir Putin Ende Dezember in St. Petersburg
Wladimir Putin Ende Dezember in St. Petersburg – in den Großstädten wollen die Russen offenbar nicht auf westliche Kultur verzichten. © IMAGO/Alexei Danichev

Der Kreml sieht sich vom Westen in einer Art Kulturkampf „gecancelt“. Die Russen stimmen offenbar zu – ziehen aber bemerkenswerte Schlüsse.

Moskau/München – „Cancel Culture“ ist auch in Deutschland mittlerweile ein oft beschworener (Kampf-)Begriff – gebraucht zumeist als Vorwurf, wenn gesellschaftspolitische Positionen nach Ansicht der Kritiker nicht ausreichend Raum finden. Recht speziell hat ein staatliches russisches Meinungsforschungsinstitut die Sache im Ukraine-Krieg verstanden: Es hat Menschen in Russland zu „Cancel Culture“ des Westens gegen das Land befragt. Die Ergebnisse hat es nun veröffentlicht. Sie wirken durchaus erstaunlich.

„Mehr als die Hälfte der Russen glaubt, ‚Cancel Culture‘ sollte gecancelt werden“, titelte die ebenfalls staatliche Nachrichtenagentur Tass am Mittwoch (28. Dezember). Was vermutlich als deutliches Votum im von Wladimir Putin postulierten Kulturkampf mit dem Westen gelesen werden soll, liest sich bei genauerer Betrachtung aber gar nicht so eindeutig.

„Gecancelt“? Russen halten Maßnahmen für unnötig – nur wenige sehen Schlag gegen „alles Russische“

53 Prozent der Befragten seien der Ansicht, die Regierung von Wladimir Putin solle „die Russland entgegengebrachte Haltung verändern und der Cancel Culture widerstehen“, notierte Tass unter Berufung auf die Studie des Allrussischen Meinungsforschungszentrums (WCIOM). Im April seien es allerdings noch 60 Prozent gewesen.

Zugleich hieß es, 89 Prozent der Russen seien sich bewusst, dass russische „Wissenschaftler, Kulturschaffende, Musiker und Studenten“ im Jahr 2022 Sanktionen erlebt hätten. Ein deutlich höherer Wert, als die 53 Prozent, die Gegenmaßnahmen forderten. 30 Prozent der Befragten hätten gar angegeben, Russland solle keinerlei Schritte zur Problemlösung ergreifen.

Auch die Frage der Meinungsforscher nach der Bedeutung des Wortes „Cancel Culture“ erhielt sehr gemischte Antworten – eine generelle Opferhaltung im Ringen rund um den Ukraine-Krieg ließ sich eher nicht ableiten. 24 Prozent der sich der „Sanktionen“ Bewussten assoziierten das „Canceln“ laut Umfrage mit individueller Ausgrenzung. Nur 21 Prozent brachten es mit Ausblendung russischer Kultur, lediglich 9 Prozent mit dem Verstummen „alles Russischen“ in Verbindung – letzteres scheint der Kreml immer wieder nahelegen zu wollen. Laut Tass waren 1.600 Erwachsene in ganz Russland befragt worden.

Russland im Ukraine-Krieg: Keine Maßnahmen gegens Canceln? Russen waren durchaus „beunruhigt“

Die Deutung der Ergebnisse scheint komplex, zumal die Studie – anders als eine Vorgängererhebung – zunächst nicht in englischer Sprache vorlag. Offenbar sind sich die Russen der ablehnenden Haltung des Westens gegen die Politik des Landes bewusst. Ob sie aus Verständnis für die Sanktionen Gegenmaßnahmen großteils für unangebracht halten, schlicht nicht am Westen interessiert sind oder nicht an den Erfolg von russischen Antworten glauben, ging aus dem Bericht nicht hervor.

Einen Fingerzeig könnte aber eine Umfrage aus dem Juni geben: Damals waren dem Institut zufolge 53 Prozent der Teilnehmer „beunruhigt“ über einen „Ausschluss russischer Kultur“ im Westen – allen voran Frauen und Kulturschaffende. Sogar 73 Prozent sprachen sich gegen eine Verbannung westlicher Kultur aus dem russischen Alltag aus. Unter Hochgebildeten und den Bewohnern Moskaus und St. Petersburgs waren es den Demoskopen zufolge 80 Prozent. Ein Experte attestierte der russischen Jugend in einem Interview mit Merkur.de zuletzt vor allem „Apathie“ und Angst.

Putin in Umfrage: Keine absolute Mehrheit für seine Partei

Das WCIOM hatte Mitte Dezember auch aktuelle Werte zum Vertrauen der russischen Bürger in die Politik veröffentlicht. 74 Prozent der Befragten äußerten angeblich Zutrauen in das Amt des russischen Präsidenten – also in Wladimir Putin. Bei freier Nennung der vertrauenswürdigsten Akteure erwähnten demnach 78 Prozent den Kremlchef. Dmitri Medwedew fand bei 34 Prozent der Befragten Erwähnung. Die Putin-Partei „Einiges Russland“ erhielt unterdessen in der Sonntagsfrage mit 37 Prozent keine absolute Mehrheit. Allerdings bildet das russische Wahlsystem die prozentualen Wahlergebnisse nicht direkt in Mandaten ab. (fn)

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