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Russland erhebt Vorwürfe gegen Ukraine – was steckt dahinter?

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Von: Florian Naumann

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Wladimir Putin und Sergej Schoigu (li.) bei einem Truppenbesuch in Ryazan Mitte Oktober.
Wladimir Putin und Sergej Schoigu (li.) bei einem Truppenbesuch in Ryazan Mitte Oktober. © IMAGO/Russian President Press Office

Eine „schmutzige Bombe“, eine geplante Damm-Sprengung: Wladimir Putins Russland erhebt schauerliche Vorwürfe gegen die Ukraine. Steckt ein Plan dahinter?

Moskau/Kiew – Der Winter naht, die Ukraine fährt weiter eine Gegenoffensive, in Russland deuten personelle Veränderungen auf politische Unruhe: Die Lage im Ukraine-Krieg wird zunehmend unüberschaubar. Am Sonntag spricht Moskau auch von einer drohenden „unkontrollierten Eskalation“. Konkrete Vorwürfe angeblich drohender ruchloser Akte an Kiews Adresse mehren sich. Von der verheerenden Sprengung eines Damms bis hin zum Einsatz radioaktiver „schmutziger Bomben“.

Die Politik in aller Welt könnte sich schon bald zu schwierigen Einschätzungen genötigt sehen: Wer ist der Urheber einer möglichen Eskalation – so sie denn tatsächlich geschehen wird? Verlässliche Informationen aus dem Kriegsgebiet sind schon seit Beginn der russischen Invasion rar. Ganz im Gegensatz zu russischen Warnungen von schweren Regelbrüchen seiner Gegner. Einziger Anhaltspunkt könnten im Falle des Falles Handlungsmuster in früheren Konflikten sein. Die könnten eher gegen Russland sprechen.

Putins Russland im Ukraine-Krieg: Was steckt hinter Schoigus neuen Vorwürfen?

Blutig und brutal ist der russische Angriffskrieg schon seit Monaten: Von mutmaßlichen Massakern in Butscha und Irpin über kolportierte Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen wie in Mariupol bis hin zu mehr oder minder deutlich verbrieften Attacken auf Wohnhäuser und andere zivil genutzte Strukturen wie Bahnhöfe. Für Beunruhigung sorgt seit langem auch die Lage an Europas größtem Atomkraftwerk in Saporischschja: Russland und die Ukraine werfen sich hier gegenseitig Beschuss der sensiblen nuklearen Einrichtung vor.

Doch mittlerweile nehmen Vorwürfe und Warnungen aus dem Kreml an Schärfe zu – just zu einem Zeitpunkt, in dem Russland militärisch unter Druck steht und öffentliche Kritik an Wladimir Putin zunimmt. Aktuell sind es zwei Vorhalte, die Sorge schüren:

„Schmutzige Bombe“: Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat laut seinem Ressort in einem Telefonat mit seinem französischen Amtskollegen behauptet, Kiew plane zur Diskreditierung Moskaus die Zündung einer radioaktiven „schmutzigen“ Bombe. Laut dem Verteidigungsministerium spitzt sich die Lage in der Ukraine immer stärker auf eine „unkontrollierte Eskalation“ hin zu. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti meldete, Kiew habe die Fertigstellung einer kleinen taktischen Atombombe faktisch abgeschlossen – und sei bereit, diese auf eigenem Boden zu zünden, „um eine starke antirussische Kampagne zu starten, die das Vertrauen zu Moskau untergraben soll“.

Als „schmutzige Bombe“ werden konventionelle Sprengsätze bezeichnet, die auch radioaktives Material verstreuen. Die Ukraine, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Atomwaffen abgegeben hat, unterstellt ihrerseits Russland, den Abwurf einer solchen Bombe zu planen.

Staudamm nahe Cherson: Die strategisch wichtige Großstadt Cherson rückte zuletzt in den Fokus: Die Armee der Ukraine arbeitet allem Anschein nach an der Rückeroberung. Zugleich hat Russland offenbar die Evakuierung der Stadt begonnen. Eine offizielle Begründung der russischen Besatzer dafür: Die ukrainische Armee plane eine Sprengung des Dnipro-Staudamms von Nowa Kachowka. In diesem Szenario würden große Siedlungsgebiete überflutet, auch Teile Chersons.

Die Gefahr einer Dammsprengung und katastrophaler Konsequenzen sieht auch die Ukraine – allerdings unter komplett anderen Vorzeichen. Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte vor einer „False-Flag-Aktion“ Russlands. Sprich: Die Besatzer wollten den Damm selbst sprengen, die Schuld der Ukraine in die Schuhe schieben und das Land damit diskreditieren. Es gebe Informationen, dass russische „Terroristen“ den Damm und das zugehörige Kraftwerk vermint hätten, sagte er am Donnerstag bei einer Schalte zum EU-Gipfel. Selenskyj warnt auch vor schlimmen Konsequenzen für die Wasserversorgung; konkret auch für die Kühlwasserversorgung des AKW Saporischschja.

Ukraine-News: Russland verschärft Vorwürfe – Selenskyj fordert Beobachter-Mission

Was in beiden Fällen tatsächlich vor sich geht, ist für ausländische Beobachter nicht mit Gewissheit zu bestimmen. Das weiß etwa auch Selenskyj - er forderte laut New York Times die Entsendung internationaler Beobachter. Klar ist einzig und allein: Leidtragende beider möglicher „Eskalationen“ wären die Menschen in der Ukraine, womöglich auch in großen Teilen Europas. Abzuwarten bleibt aber nicht zuletzt, ob überhaupt eine der beiden Katastrophen eintritt. Russland erhebt immer wieder schockierende Vorwürfe. So behauptete Wladimir Putin zuletzt unter anderem erneut, die USA führten in der Ukraine „Versuche an Menschen“ durch. Genauere Informationen oder handfeste Berichte gab es jedoch zu keinem Zeitpunkt.

Aktuell bleiben also nur Indizien, Experteneinschätzungen oder Rückgriffe auf frühere Ereignissen zur Bewertung der Situation und einer möglichen Schuldfrage. Ein kursorischer Überblick:

Ukraine-Krieg vor „unkontrollierter Eskalation“: Was ist zu Russlands Vorwürfen bekannt?

Eine Dammsprengung bei Cherson – Experten sehen Interesse vor allem bei Russland: Sollte der Damm bei Nowa Kachowka tatsächlich gesprengt werden, sähe der Sicherheitsforscher Christian Mölling Indizien für eine russische Urheberschaft: Die Ukraine hätte, „wenn sie den Damm hätte sprengen wollen, dies im letzten halben Jahr jederzeit tun können“, urteilte der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in einem Beitrag für das ZDF. Zugleich sei unwahrscheinlich, dass Kiew die Zerstörungen im eigenen Staatsgebiet in Kauf nehmen würde – während Russland einen bereits angedeuteten Rückzug durch das Ereignis decken könnte.

Auf letzteren Punkt wies auch das US-amerikanische Institute for the Study of War hin. Schon am Mittwoch schrieben die Experten in einer Analyse, Russland habe aus der Empörung über den Rückzug aus der Region Charkiw „nachweislich gelernt“ und bereite nun Begründungen für einen weiteren Abzug vor. Ein Dammbruch würde eine militärische Flucht „überschatten“ – und neues Futter für die These liefern, die Ukraine sei ein „Terroristenstaat“. Zugleich könne Moskau im Zuge einer Evakuierung eigenes Personal aus der Gegend bringen, weitere Deportierungen ukrainischer Staatsbürger nach Russland bewerkstelligen und einen weiteren Vormarsch ukrainischer Truppen erschweren.

Auch der viel beachtete Twitter-Account „GeoConfirmed“, ein Kooperationspartner der Investigativplattform Bellingcat, sah auf Grundlage von Satellitenbildern keine Anhaltspunkte für ein ukrainisches Interesse an der Sprengung des Dammes. Im Gegenteil: Das ukrainische Militär attackiere schon seit Monaten die über den Damm führenden Straßen. Diese seien ein wichtiger Versorgungsweg für russische Truppen.

Dabei habe die Ukraine aber stets die Schleusen des Dammes geschont – und so letztlich aus Rücksicht auf die Bevölkerung militärische Probleme in Kauf genommen. Das Verdikt der Verfasser: Einen Damm zu sprengen sei eine „Defensivaktion“ gegen das Vorrücken eines Gegners, die Ukraine aber „ist in der Offensive und muss in der Lage sein, den Dnipro zu überschreiten“. Auch würde nötige humanitäre Hilfe für Flutopfer die Gegenoffensive verlangsamen. Daher sei es „unwahrscheinlich“, dass Kiew eine Dammsprengung wolle.

„Radioaktive“ Bombe – viele Vorwürfe und ein Blick nach Syrien: Bedrohlich muten auch Moskaus Vorwürfe in Bezug auf eine „schmutzige Bombe“ an. Die Nachrichtenagentur Ria Novosti berichtete gar unter Berufung auf nicht genannten Quellen, Kiew befinde sich in Gesprächen mit dem Vereinigten Königreich über die Weitergabe von „Kernwaffenkomponenten“. Unter Führung „westlicher Kuratoren“ sei der Bau einer bereits „in der Endphase“. Auch Details nannte die Staatsagentur: So sei unter anderem das Kiewer Institut für Kernforschung beteiligt.

Auch solche Vorwürfe lassen sich aus dem Ausland nicht mit Gewissheit überprüfen. Die ukrainische Regierung dementierte umgehend – ebenso wie der britische Außenminister Ben Wallace: Derartige „Lügen“ seien „so gefährlich wie absurd“, twitterte Außenminister Dmytro Kuleba. Die Ukraine sei Mitglied des Atomwaffensperrvertrages und verfüge weder über „schmutzige Bomben“, noch wolle sie solche erlangen. „Zum anderen beschuldigen Russen oft andere dessen, was sie selbst planen“, fügte er hinzu. Auch die These eines russischen Plans für eine radioaktiv kontaminierte Bombe lässt sich nicht verifizieren.

Kuleba spielte aber auf einen bekannten Vorwurf an die Adresse Moskaus an. Schon zu Beginn des Krieges behauptete der Kreml, die USA forschten in der Ukraine an Bio-Waffen. Die US-Regierung warnte daraufhin vor einem möglichen russischen Einsatz chemischer oder biologischer Waffen in der Ukraine. Zu diesem kam es bislang offenbar nicht. Ein ebenfalls nicht final geklärter Referenzpunkt ist der Krieg in Syrien: Dort kam die Organisation für das Verbot chemischer Waffen 2019 zum Urteil, dass Chlorgas im April 2018 in der Stadt Duma eingesetzt wurde. Russland und das von ihm unterstützte syrische Regime beschuldigten den Westen und syrische Rebellen einer „False-Flag“-Aktion. Die Investigativ-Journalisten von Bellingcat sahen hingegen schon 2018 Anhaltspunkte für einen Abwurf entsprechender Chlorgas-Behälter von Helikoptern des syrischen Militärs.

„Schmutzige Bombe“: Russland beschuldigt Ukraine – US-Expertin findet Schoigu-Äußerung „beunruhigend“

Viele Fragen zu Schoigus Äußerungen bleiben offen. Russlands Glaubwürdigkeit ist aber belastet. Die bekannte Verteidigungsexpertin Dara Massicot von der RAND-Corporation, einem US-Thinktank, warnte jedenfalls am Sonntag. „Das liest sich wie russische Grundlagenarbeit an False-Flag“, twitterte sie. „Beunruhigend, dass das auf Verteidigungsminister-Ebene geschieht.“ Der kanadische UN-Botschafter Bob Rae betonte indes, Russland sei das einzige Land, das jedenfalls im übertragenen Sinne „schmutzige Bomben“ im Ukraine-Krieg einsetze – Putin und Schoigu nähmen bewusst Zivilisten, Energie-Infrastruktur oder auch die Wärmeversorgung ins Visier: „Warum sollte ihnen irgendein klar denkender Menschen glauben?“

Klar ist, dass die Wortmeldung zu einer Zeit kommt, in der Russland widersprüchliche Signale in Sachen eines eigenen Atomwaffeneinsatzes sendet: Putin drohte wiederholt, man werde die annektierten Gebiete „mit allen Mitteln“ verteidigen. Niedrig rangigere Diplomaten dementierten die Gefahr eines russischen Nuklearschlages. Westliche Experten meinten indes, Putin werde auf einen Schlag verzichten, weil dieser die Russische Förderation international delegitimieren würde. Eine vermeintliche „Eskalation“ auf ukrainischer Seite könnte - so oder so - nach russischer Lesart eine neue Ausgangslage für den Einsatz drastischer Mittel schaffen.

Florian Naumann (mit Material von AFP)

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