Russland-Hardliner berichtet von der Front – und zerreißt Putins Strategie in Gänze
Igor Girkin war militärischer Führer der „Volksrepublik Donezk“. Nach zwei Monaten Front kritisiert er Russlands Regierung scharf – der Druck auf Putin wächst.
Donezk – Russland wollte die Ukraine schnell erobern, diese militärischen Pläne des Kremls sind jedoch fast vollständig gescheitert. Seit mehr als neun Monaten dauert der Ukraine-Krieg nun an, zuletzt eroberten die ukrainischen Streitkräfte mehr und mehr Gebiete zurück. Immer wieder gibt es Berichte über den desolaten Zustand der russischen Armee und die brüchige Moral der Soldaten.
Gekämpft wird derzeit vor allem im Osten der Ukraine. Nun meldet sich ein Hardliner aus Moskau zu Wort, der einen Einblick von der Front gibt – und aus russischer Sicht nichts Positives zu berichten hat.
Ukraine-Krieg: Igor Girkin kritisert Russlands Planlosigkeit
Igor Girkin war militärischer Führer der separatistischen „Volksrepublik Donezk“ (DNR). Schon seit Beginn der Kämpfe 2014 gilt er als einer der härtesten Kritiker von Wladimir Putin und der russischen Regierung. Auch kurz nach dem Einmarsch Russlands am 24. Februar 2022 zeigte er sich wenig optimistisch, was einen Sieg über die Ukraine angeht. Ihm gehe die Armee zu planlos vor.
Im Oktober gab Girkin bekannt, selbst in die Ostukraine zu gehen und für Russland zu kämpfen, wie die US-Denkfabrik Institute for the Study of War berichtet. Nun ist Girkin nach Moskau zurückgekehrt und lässt sich auf seinem Telegram-Kanal erneut über die fehlende Strategie von Russlands Armee und der separatistischen Kämpfer aus.

So behauptet Girkin, der auch unter dem Namen Igor Iwanowitsch Strelkow bekannt ist und „Strelok“ (Schütze) genannt wird, dass er sich nicht bei einem Freiwilligenbataillon habe einschreiben können. Folglich sei er einem DNR-Bataillon illergalerweise beigetreten. In der Folge sei er auch illegal mit Waffe und Munition zwei Monate im militärischen Gebiet unterwegs gewesen. Girkin schreibt: „Wenn mir auf diesen Reisen etwas zugestoßen wäre... muss ich erklären, dass es sich nur um die ‚Amateurhaftigkeit des Abenteurers Girkin‘ oder (bestenfalls) um einen Unfall bei der Ausübung einer ‚freiwilligen Tätigkeit‘ handeln würde?“
Russische Armee bereitet in der Ukraine wohl „langwierigen Stellungskrieg“ vor
Girkin berichtete, er sei in der Stadt Swatowe im Oblast Luhansk gewesen. Beschuss habe er keinen erlebt, obwohl sein Bataillon in Reichweite ukrainischer Beschüsse untergekommen war. Girkin bemängelte fehlendes Engagement und Planlosigkeit der Kommandeure vor Ort. Er wirft ihnen vor, ihn unzureichend über die schlechten Zustände an der Front aufgeklärt zu haben, trotz „sehr solider“ materieller Untersützung seinerseits.
Allerdings endet die Kritik des Hardliners mitnichten bei den Verantwortlichen vor Ort: Die meisten Soldaten und Offiziere wüssten überhaupt nicht wissen, wofür sie kämpfen, rügte er. Auch die oberste Führung Russlands könne ihnen das nicht wirklich erklären. Ein klares Ziel fehle also. Girkin zufolge erklärt das auch die schlechte Moral und sich häufenden Rückschläge aufseiten Russlands.
Die russischen Streitkräfte würden sich derzeit auf einen „langwierigen Stellungskrieg“ vorbereiten und eine Verteidigungslinie errichten, schrieb Girkin. Für Russland sei eine solche Strategie „selbstmörderisch“. Er kritisierte, russische Regierung und Armee hätten das ausgegebene Ziel der „Denazifizierung“ der Ukraine aus den Augen verloren – man gebe sich mit der „Befreiung“ des Donbass zufrieden.
Russischer Hardliner befürchtet erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine
Die Kreml-Strategie, kritische Infrastruktur der Ukraine zu bombardieren, hält Girkin für wenig zielführend. Die Bevölkerung und Armee würden infolge dieser Angriffe weder erfrieren noch revoltieren. Der Winter werde die ukrainischen Kämpfer nicht von einer erfolgreichen Gegenoffensive abhalten. Ganz im Gegenteil, befürchtet Girkin, werde die Ukraine noch motivierter sein und bei den russischen Gegnern vor allem Apathie feststellen. Chancen auf russische Erfolge an der Front sieht er kaum.
Girkin selbst ist überzeugter Nationalist und Befürworter des Kriegs. Seine Eindrücke deuten auf Zerwürfnisse in der militärischen Führung und strategisches Chaos hin, das ganz oben im Kreml beginnt. (lrg)