Verhandlungen mit Russland? Experte kritisiert „völlige Unkenntnis der Lage“
In Deutschland werden häufiger Rufe nach Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland laut. Ein Experte attestiert diesen Personen Ignoranz und Unkenntnis.
Berlin/Moskau/Kiew – Nächsten Monat jährt sich erstmals der Ukraine-Krieg. Direkte Verhandlungen zwischen den beiden Kriegsparteien scheinen aktuell unvorstellbar. Zuletzt sprachen Russland und die Ukraine am 17. Mai 2022 miteinander. Heute fordert Kiew den Abzug sämtlicher russischer Truppen, während Moskau auf die vier annektierten Oblaste Donezk, Saporischschja, Luhansk und Cherson – und die Krim – beharrt.
In Deutschland gab es in den vergangenen Monaten immer wieder Aufrufe zu mehr Diplomatie, sowohl aus der Politik als auch in Form von Meinungsartikeln und offenen Briefen. Aufrufe, die immer wieder kritisiert wurden, so etwa auch vom Osteuropa-Historiker Karl Schlögel. „Sie haben sich noch nie mit dem östlichen Europa beschäftigt, aber nehmen es sich heraus, den Ukrainern Ratschläge zu erteilen. Das hat etwas von Oberlehrertum und Anmaßung“, sagte Schlögel in einem Interview mit dem Tagesspiegel.
Das ukrainische Volk nun zu Verhandlungen, und damit indirekt zur Aufgabe, zu zwingen, wäre letzten Endes – trotz der vielen russischen Verluste – ein Sieg Russlands. Dass der Westen das nicht zulassen will, zeigen jüngst angekündigte Waffen- und Panzerlieferungen aus den USA und der Bundesrepublik.

Ukraine-Krieg: Experte sieht „keine Grundlage für Friedensverhandlungen“
Es stellt sich ohnehin die Frage, ob ein Krieg im Falle eines Nachgebens der Ukraine tatsächlich vorbei wäre. Denn inzwischen sollte allen klar sein, dass Wladimir Putin vier weitere Gebiete für sein Russland nicht ausreichen würden. Schließlich sind Ukrainerinnen und Ukrainer für den Präsidenten „kein eigenes Volk“, wie er in einem eigens verfassten Aufsatz klarstellte. Zu glauben, dass der Kreml es langfristig bei einer Teil-Annexion belassen würde, wäre naiv.
Die propagandistischen Aussagen aus Russland, gepaart mit all der Zerstörung von Leben, Kunst und Kultur, sprechen eher dafür, dass man das Nachbarland gänzlich „auslöschen“ und einverleiben will. Einer Auffassung, der auch Karl Schlögel ist: „Der Ruf nach Verhandlungen hat etwas mit völliger Unkenntnis der Lage zu tun“, sagte der Experte. Es sei problematisch, dass man inzwischen die Krim – die 2014 von Russland annektiert worden war – als russisches Gebiet betrachtet. Wer die Schwarzmeer-Halbinsel als russisch ansieht, „legitimiert noch einmal den Völkerrechtsbruch“.
Die vermeintlich deeskalierende Argumentation spiele Putin in die Hände. „Wir können doch nicht denjenigen, der den Krieg entfesselt hat, definieren lassen, was Recht ist“, sagte Schlögel. „Jeder Tag, an dem Raketen auf Städte niedergehen und Verbrechen begangen werden, ist der Beweis dafür, dass es im Augenblick überhaupt keine Grundlage für Friedensverhandlungen gibt“, erklärte der Experte weiter.
Ende des Ukraine-Kriegs wohl noch weit entfernt: Volk steht hinter Kiew
Dabei wünscht sich niemand mehr als das ukrainische Volk den Abzug der russischen Truppen und das Ende des Kriegs. Doch ein Land, was in dem Konflikt nicht nur Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser und symbolträchtige Kultur, sondern US-Schätzungen zufolge auch rund 100.000 Menschen verloren hat, wird nach all dem erfahrenen Leid nicht mehr nachgeben.
Wolodymyr Selenskyj will den Kampf gegen die russischen Invasoren weiterführen – und nur dann in direkte Verhandlungen mit Moskau treten, wenn Wladimir Putin und seine Verbündeten für ihre Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen und ihre Truppen aus der gesamten Ukraine abgezogen werden. Welche Bedingungen am Ende tatsächlich zu einem gemeinsamen Gespräch führen werden, und vor allem wann, lässt sich noch nicht sagen. Fakt ist aber, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer bis dahin hinter ihrer Regierung stehen. (nak)