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Deutschland kann von Japans China-Strategie lernen

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Von: Foreign Policy

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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht die Gangway des Airbus A340 der Luftwaffe hinauf. Der Bundeskanzler reist zu seinem Antrittsbesuch nach Polen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht die Gangway des Airbus A340 der Luftwaffe hinauf. © Kay Nietfeld/dpa

Berlin sollte die Taktik einer anderen Wirtschaftsmacht übernehmen, die sich in einer ähnlichen Lage befindet.

Berlin - Eine der größten außenpolitischen Herausforderungen für eine neue deutsche Regierung wird darin bestehen, die richtige Balance zwischen wirtschaftlichen Prioritäten, nationalen Sicherheitsinteressen und der Verteidigung demokratischer Werte in den Beziehungen zu China zu finden. Dabei kann Deutschland viel von Japan lernen, einem anderen Land mit engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China, das Pekings autoritären Kurswechsel im Inland und die wachsende Selbstsicherheit im Ausland unter dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping* zunehmend mit Sorge betrachtet.

Deutschland und Japan haben über ihre komplexen Beziehungen zu China hinaus viele Gemeinsamkeiten. Beide gingen besiegt und zerstört aus dem Zweiten Weltkrieg hervor und entwickelten sich zu führenden Wirtschafts- und Technologiemächten. Beide haben starke pazifistische Strömungen, die sich durch ihre Außenpolitik ziehen. Und beide sind in Bezug auf ihre Sicherheit stark von den Vereinigten Staaten abhängig.

Deutschland kann von Japans Strategie im Umgang mit China lernen

Es gibt auch wesentliche Unterschiede. Deutschland befand sich an der Frontlinie des alten Kalten Krieges. Japan* steht an vorderster Front einer möglicherweise neuen Krise. Aus diesem Grund hat Japan sein nationales Sicherheitskonzept schneller noch als Deutschland an eine neue Ära angepasst, in der die Grenzen zwischen Handel, Technologie, Sicherheit und Menschenrechten zunehmend verwischt werden.

Im Jahr 2013 leitete der damalige japanische Premierminister Shinzo Abe die ehrgeizigste Umstrukturierung des japanischen Außen- und Sicherheitsapparats seit dem Zweiten Weltkrieg, indem er einen Nationalen Sicherheitsrat einrichtete und die erste nationale Sicherheitsstrategie des Landes herausgab. Einige Jahre später führte er im Nationalen Sicherheitsrat eine Funktion für wirtschaftliche Staatsführung ein und richtete in den Regierungsministerien Abteilungen ein, die sich mit neuen Sicherheitsherausforderungen befassen sollten.

In den letzten Wochen ist Japans neuer Premierminister Fumio Kishida noch einen Schritt weiter gegangen. Seit seinem Amtsantritt Anfang Oktober hat er einen neuen Posten auf Kabinettsebene geschaffen – Minister für wirtschaftliche Sicherheit –, der die Bemühungen der Regierung zur Sicherung der Lieferketten, zum Schutz kritischer Infrastrukturen und zur Bekämpfung wirtschaftlicher Nötigung koordinieren soll. Der neue Posten wird von Takayuki Kobayashi bekleidet, einem 46-jährigen aufstrebenden Politiker, der auf Twitter unter dem Namen „Kobahawk“ auftritt.

Japans nationales Sicherheitskonzept im Verhältnis mit China: Zwischen Menschrechtsfragen und Wirtschaftsbeziehungen

Kishida bat zudem General Nakatani, einen ehemaligen japanischen Verteidigungsminister, dessen Sonderberater für Menschenrechte zu werden, ein bemerkenswerter Schritt, da Japan traditionell davor zurückschreckt, in Menschenrechtsfragen klar Stellung zu beziehen. Die Ernennung Nakatanis wurde explizit mit Chinas Vorgehen in Xinjiang* und Hongkong in Verbindung gebracht. Im vergangenen Jahr fand Japan auch im Hinblick auf Taiwan* deutlich klarere Worte.

Und das trotz seiner geografischen Nähe zu China und einer engen bilateralen Wirtschaftsbeziehung, die in den vergangenen Jahrzehnten diplomatische Zurückhaltung gelehrt hat. Über 20 Prozent der japanischen Exporte gingen 2020 nach China*, verglichen mit etwa 8 Prozent für die Vereinigten Staaten und Deutschland. Tokio steht in vielerlei Hinsicht vor einem heikleren Balanceakt als Washington oder Berlin. Doch zeigt das Land eine Bereitschaft, seinen Ansatz an die neuen geopolitischen Gegebenheiten anzupassen.

Der Sozialdemokrat Olaf Scholz*, der Angela Merkel als Bundeskanzler abgelöst hat, sollte dies zur Kenntnis nehmen. Deutschlands eigene nationale Sicherheitsstrukturen haben es versäumt, mit einem sich schnell entwickelnden geopolitischen Umfeld Schritt zu halten, in dem sich systemische Rivalitäten im digitalen Bereich abspielen.

Geopolitik der Bundesrepublik: Die 5G-Entscheidung über den chinesischen Konzern Huawei

In Merkels* 16-jähriger Amtszeit hat sich das Bundeskanzleramt fast verdoppelt und ist zum außenpolitischen Zentrum in Berlin geworden. Die Koordinierung zwischen den Ministerien, die im politischen System Deutschlands häufig von Politikern konkurrierender Parteien geleitet werden, war jedoch oft nicht gewährleistet.

Am deutlichsten wurde dies vielleicht in der Debatte über die Einbeziehung des chinesischen Telekommunikationskonzerns Huawei* in das deutsche 5G-Mobilfunknetz – eine politische Entscheidung mit wirtschaftlichen, technologischen und sicherheitspolitischen Auswirkungen, die eine gesamtstaatliche Stellungnahme erforderte.

Stattdessen zog sich die deutsche 5G-Entscheidung über Jahre hin. Die Minister verfolgten ihre eigene, engstirnige Agenda, und das Bundeskanzleramt versäumte es, einen klaren Kurs vorzugeben und einen Konsens zu finden. Am Ende war das deutsche Parlament der entscheidende Akteur, der Merkel zwang, weitaus strengere Beschränkungen zu akzeptieren, als ihr lieb war. Das Aufbrechen dieser Silos sollte für Scholz, der eine potenziell schwierige Dreierkoalition mit den umweltorientierten Grünen und den liberalen Freien Demokraten leiten wird, oberste Priorität haben.

Bundeskanzler Olaf Scholz: Als Finanzminister vermied er klare Stellungnahme zu China

Als Finanzminister der scheidenden Regierung vermied es Scholz, zu den großen Fragen der Chinapolitik, einschließlich der Rolle von Huawei, klar Stellung zu beziehen. Während des deutschen Wahlkampfes predigte er, wie wichtig Kontinuität in der Außenpolitik sei. Die Grünen* und die Freien Demokraten äußerten sich jedoch kritisch zu Merkels Ansatz und streben eine härtere Linie an, insbesondere in Bezug auf Menschenrechte.

Es besteht die Gefahr eines heillosen Stimmengewirrs ohne übergreifende Strategie, die Kohärenz in die oft widersprüchlichen wirtschaftlichen, nationalen Sicherheits- und Werteprioritäten bringt, die im Mittelpunkt der heutigen außenpolitischen Entscheidungsfindung stehen.

Nach ersten Berichten aus den deutschen Koalitionsverhandlungen haben sich die Parteien gegen die Errichtung eines robusten Nationalen Sicherheitsrates entschieden, wie ihn Japan vor fast zehn Jahren eingeführt hat. Die neue Regierung sollte jedoch regelmäßigere Sitzungen und eine Erweiterung des Aufgabenbereichs des Bundessicherheitsrats in Erwägung ziehen, der sich traditionell auf das eng begrenzte Thema der Waffenexporte konzentriert hat.

Ampel-Koalition: Deutschland braucht nationale Sicherheitsstrategie – Vision von oben

Positiv zu vermerken ist, dass sich die Parteien einig zu sein scheinen, dass Deutschland eine nationale Sicherheitsstrategie braucht. Weitere Anpassungen sollten in Betracht gezogen werden, darunter eine stärkere Konzentration auf den indopazifischen Raum innerhalb des Bundeskanzleramtes und die Zusammenlegung des deutschen Außen- und des Wirtschaftsentwicklungsministeriums, um die Ausgaben für die Entwicklungshilfe besser auf die strategischen Prioritäten abzustimmen.

Strukturen können nur in begrenztem Maße helfen. Ohne eine klare Vision von oben ist es unwahrscheinlich, dass eine Überholung des deutschen Sicherheitsapparates die Siloprobleme Berlins lösen wird. Doch weisen die Maßnahmen, die Japan in den letzten Jahren ergriffen hat, Deutschland den Weg zu flexibleren institutionellen Antworten auf die von China gestellten Herausforderungen. Strukturelle Veränderungen können auch eine wichtige Signalwirkung haben und Peking deutlich machen, wo die außenpolitischen Prioritäten Deutschlands liegen.

Unter Merkel fehlte es zu oft an strategischer Klarheit in Bezug auf China. Die Bildung einer neuen Regierung bietet die Gelegenheit, die Strukturen der deutschen Außenpolitik zu überdenken und ein gemeinsames Konzept zu entwickeln. Mit Blick auf Japan sollten Scholz und seine Koalitionspartner diese Chance ergreifen.

von Noah Barkin

Noah Barkin ist Managing Editor bei der Rhodium Group und Senior Visiting Fellow beim German Marshall Fund of the United States.

Dieser Artikel war zuerst am 16. November 2021 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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