1. Startseite
  2. Politik

Nato oder nicht? Schweden fürchtet „Risiken“ in allen Konstellationen - und könnte schnell „einsamer“ werden

Erstellt:

Von: Florian Naumann

Kommentare

Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson bei der Nato-Übung „Cold Response“ in Norwegen.
Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson bei der Nato-Übung „Cold Response“ in Norwegen. © IMAGO/JERREVANG STEFAN/Aftonbladet

Schweden und Finnland nehmen Russland zunehmend als Bedrohung wahr. Doch Stockholm hadert mit einer Nato-Perspektive. Das Land könnte bald „einsam“ dastehen.

Stockholm/Helsinki - Ein Nato-Beitritt Finnlands mitten im Ukraine-Konflikt könnte mit großen Schritten näher rücken: Präsident Sauli Niinistö rechnet nach eigenen Angaben mit einer „zügigen“ Entscheidung - und einer „gewaltigen parlamentarischen Mehrheit“ für einen entsprechenden Antrag. Das wäre eine sicherheitspolitische Zäsur. Niinistö kündigte sie unmittelbar vor einer Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung an.

Die Blicke richten sich nun auch auf den skandinavischen Nachbarn Schweden: Über Jahrzehnte hinweg hatten Schweden und Finnland ihr sicherheitspolitisches Schicksal eng miteinander verknüpft. Sogar in aktuellen Meinungsumfragen zu einem Nato-Beitritt machten viele Befragte ihre Einstellung von der Haltung des Nachbarlandes abhängig. Doch nun könnte Finnland allein gen Nato schwenken - und Schweden „allein lassen“. Es könne „einsam“ um das Land werden, mahnen Experten.

Schweden vor Nato-Beitritt? Andersson zaudert - Insider unkt: „Das Risiko ist, dass wir nicht dabei sind“

In Schweden läuft derzeit ein parlamentarischer Beratungsprozess zum Thema Verteidigungsstrategie. Die Lage ist komplex. Denn die Geschäfte führt eine sozialdemokratische Minderheitsregierung - deren Tolerierungspartner in Sachen Nato uneins sind. Auch die Sozialdemokraten selbst sind traditionell zurückhaltend bei dem Thema. Außenministerin Ann Linde bremste dann, anders als Niinistö, zuletzt auch. „Es ist ganz und gar nicht sicher, dass wir zu den selben Schlusssätzen kommen“, sagte sie der Zeitung Dagens Nyheter mit Blick auf die Nato-Pläne Finnlands.

Tatsächlich scheint der Ausgang des Streits völlig offen. Regierungschefin Magdalena Andersson habe sich zuletzt widersprüchlich geäußert und gezaudert, urteilte Wirtschaftshistorikerin Elise Dermineur in einem Tweet. Auch an mahnenden Stimmen mangelt es nicht. Der Stockholmer Forscher Jonathan Feldman rügte zuletzt - ebenfalls in Dagens Nyheter - gar Waffenlieferungen an die Ukraine als einen Fehler: Schweden habe seine Fähigkeit als Vermittler aufs Spiel gesetzt. Debattiert wird auch, ob ein Beitritts-Ansuchen das Land erst zur „Zielscheibe“ Russlands machen könne. Dermineur attestierte eher kühl eine für Stockholm klassische Konstellation: „Schweden überstürzt niemals Entscheidungen.“

Doch ein gewisser Zeitdruck könnte gegeben sein: Erst Mitte der Woche hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch einmal betont, dass die Tür für Schweden und Finnland offen stehe. Die Tageszeitung Dagens Industri hat allerdings auch Warnungen vernommen: Sollte sich ein neuer „kalter Krieg“ entwickeln, könne die Nato Probleme bekommen, sich zu erweitern, zitiert das Blatt ein „Person mit großem Einblick“: „Das große Risiko ist, dass wir nicht dabei sind. Diese Risiko ist viel größer, als die eines Aufnahmeprozesses“, erklärte der anonyme Insider - der freilich auch eigene politische oder wirtschaftliche Interessen haben könnte.

Schweden, Finnland und die Nato: Experte sieht schon Beitrittsprozess als „Risiko“

Tatsächlich ist Schweden nicht zuletzt besorgt über Gefahren im „Prozess“ des Beitritts. Experten sehen Risiken im kompletten Verlauf einer Beitrittsdebatte. „Jemand“ könne versuchen, einen Beschluss Schwedens oder der Nato-Staaten zu beeinflussen, urteilte Axel Wernhoff, Botschafter der schwedischen Nato-Delegation Dagens Industri.

Der finnische Sicherheitsforscher Charly Salonius-Pasternak wurde deutlicher. Für Schweden und Finnland beinhalte das Beitrittsprozedere „ein Risiko für Hybridbedrohungen, Cyber-Angriffe, die Anwendung von Geflüchteten als Waffe und Militäroperationen.“ Es könne sich um Verletzungen des Luftraums handeln oder auch um Drohungen mit militärischen Eingriffen. Tatsächlich waren russische Jets vor einigen Wochen in schwedischen Luftraum über der Insel Gotland eingedrungen - womöglich mit atomarer Bewaffnung.

Russland droht Finnland wegen möglichem Nato-Beitritt: „Karte für Zerstörung des Landes“

Dass diese Sorgen auch im übertragenen Sinne nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, zeigte sich auch am Freitag: Der russische Duma-Abgeordnete Wladimir Dschabarow drohte Finnland laut einem Bericht der Bild indirekt, aber kaum verhohlen. Es sei unwahrscheinlich, dass „die Finnen“ mit einem „Nato-Beitritt selbst eine Karte für die Zerstörung ihres Landes unterschreiben würden“. Auch ein Kreml-Mitarbeiter hatte beiden Ländern im Februar gedroht. Zugleich meldeten das Außen- und Verteidigungsministerium in Helsinki am Freitag „Überlastungsattacken“ auf ihre Webseiten.

In Sachen Finnland meldete sich Kreml-Sprecher Peskow persönlich zu Wort. Um eine „existenzielle Bedrohung“ Russlands handele es sich bei einem finnischen Nato-Beitritt zwar nicht. Zugleich betonte er aber, dass Russland in einem solchen Erweiterungsfall die Situation „neu ausbalancieren“ und seine westliche Flanke stärker schützen müsse. Die „existenzielle Bedrohung“ kann auch als Klausel für den Einsatz von Atomwaffen verstanden werden.

Auch die Nato hat eine veränderte Sicherheitslage nach einer Beitrittsankündigung der beiden skandinavischen Länder offenbar einkalkuliert. Generalsekretär Stoltenberg habe klargestellt, auch während eines potenziell mehrmonatigen Beitrittsprozess sei „Hilfe“ der Allianz möglich, unterstrich Dagens Industri in seiner Berichterstattung.

Schweden kein sicherer Partner für Finnland? Experte sieht Land nun selbst vor wachsender „Einsamkeit“

Um die Lösung wird in Schweden weiter gerungen. Klar ist aber laut Experten auch, dass das Militär des Landes zu schwach ist, um längere Kampfeinsätze durchzustehen. „Die schwedische Landesverteidigung ist heute in gutem Zustand, aber sie ist viel zu klein“, sagte Magnus Petersson, Experte für nordische Verteidigungszusammenarbeit, dem finnischen Rundfunk YLE. Die schwedische Armee und die „Heimwehr“ haben nach offiziellen Angaben 45.000 Kräfte - Reservisten und Teilzeit-Kräfte inbegriffen.

Eine Unterstützung wie einst im sowjetischen Winterkrieg dürfe Finnland daher nicht erwarten, sagte Petersson. Womöglich auch deshalb will sich Finnland nun nicht mehr vorrangig auf den Nachbarn verlassen. „Finnland kann Schweden als ein Land verstehen, das kneift, wenn es darauf ankommt“, erklärte der Experte.

Salonius-Pasternak warnte im Umkehrschluss aber auch vor Konsequenzen eines Nato-Beitritts des langjährigen Partners für Schweden: So habe die Nato etwa Polen zurückgehalten, als es zwischenzeitlich schnelle Hilfe leisten wolle - aus Sorge, das Bündnis könne in den Krieg hineingezogen werden. „Ich könnte mir vorstellen, dass sich exakt dieselbe Dynamik ergibt, falls Finnland Schweden helfen will“, betonte er. Das würde dann wohl auch für Deutschlands Unterstützungs-Bekundungen an Andersson im Ukraine-Konflikt gelten. Letztlich könne Stockholm „einsamer werden, als es das heute ist“, folgerte jedenfalls Salonius-Pasternak. (fn)

Auch interessant

Kommentare