Soledar gefallen: „Niemand zählt die Toten“ – Russland spricht vom „Sahnehäubchen“

Der ukrainischen Armee droht nach schweren Kämpfen im Donbass der Verlust der Kleinstadt Soledar. Damit würden Kramatorsk und Slowjansk in Reichweite der russischen Armee rücken. Und nicht nur das.
München/Donbass - Die Anzeichen verdichten sich: Russland ist im Ukraine-Krieg nach vielen militärischen Rückschlägen wohl wieder in der Offensive. Zumindest im Osten des Landes, im Donbass, wo ukrainische Verteidiger und russische Angreifer sich gnadenlos bekämpfen.
Dies sollen unter den Hashtags #bachmut, #bakhmut und #soledar Videos bei Twitter zeigen. Verifizieren lassen sich die Beiträge nicht. Sie dokumentieren jedoch offensichtlich heftige Kämpfe, während zum Beispiel ein US-Senator die Vereinigten Staaten und den Westen vor einer „katastrophalen“ Entscheidung warnt, die Ukraine just in dieser Situation nicht ausreichend zu unterstützen.
Nach heftigen russischen Angriffen: Ukrainische Armee verliert angeblich Soledar
Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, verkündete laut russischer Staatsagentur Tass am Dienstagabend (10. Januar) die Eroberung des Ortes. Kiew dementierte. „Soledar war, ist und wird immer ukrainisch sein“, erklärte die ukrainische Armee am Mittwoch im Onlinedienst Telegram. Sie will die Kleinstadt offenbar partout nicht aufgeben. Warum. Und was ein Verlust Soledars für den Kriegsverlauf bedeuten würde - nicht nur im Donbass:
Im Video: Kompakt - Die wichtigsten News zum Russland-Ukraine-Krieg
Kämpfe bei Soledar: Ukrainische Armee wäre bei Niederlage stark geschwächt
Eine geschwächte ukrainische Armee: „Die Situation ist kritisch. Schwierig“, erklärte ein ukrainischer Soldat der 46. Luftwaffenbrigade dem Nachrichtenportal Ukrainska Pravda. Seine Einheit soll laut dem Bericht in Soledar kämpfen. „Niemand wird Ihnen sagen, wie viele Tote und Verwundete es gibt. Denn niemand weiß es genau. Keine einzige Person. Nicht im Hauptquartier. Nirgendwo. Ständig werden Positionen neu eingenommen“, erzählte er: „Was heute unser Haus war, wird am nächsten Tag Wagners‘ Haus sein. In Soledar zählt niemand die Toten.“
Als gesichert gilt: Die ukrainische Armee würde aus einer militärischen Niederlage in Soledar enorm geschwächt hervorgehen. Zu hoch sind und waren die Verluste dort. „Unserer Einheiten wurden mehr oder weniger um fast die Hälfte erneuert. Wir haben nicht einmal Zeit, uns gegenseitig unsere Rufzeichen zu merken“, schilderte der beschriebene Soldat. Während der ukrainische Generalstab tagtäglich angebliche russische Verluste veröffentlicht, ließen etwa die Amerikaner keinen Zweifel daran, dass auch der Blutzoll der Ukraine hoch ist. „Sie haben es mit weit mehr als 100.000 getöteten und verletzten russischen Soldaten zu tun“, erklärte US-Armeegeneral Mark Milley bereits am 10. November. Gleiches gelte „wahrscheinlich für die ukrainische Seite“.
Niemand wird Ihnen sagen, wie viele Tote und Verwundete es gibt. Denn niemand weiß es genau. Keine einzige Person. Nicht im Hauptquartier. Nirgendwo.
Die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar schrieb kürzlich auf Telegram, dass die ukrainische Armee inzwischen zu großen Teilen nicht mehr aus Berufssoldaten, sondern aus zum Militärdienst eingezogenen Zivilisten bestehe. Für diese sei der Einsatz eine „äußerst schwierige moralische und physische Prüfung“.
Kämpfe um Soledar: Ukraine droht Verlust des gesamten Donbass
Es droht ein Verlust des gesamten Donbass: Soledar gilt als wichtiger Baustein des ukrainischen Verteidigungswalls vor dem Ballungsgebiet zwischen Slowjansk und Kramatorsk. Die beiden Großstädte bilden den letzten Großraum im Donbass, den die Verteidiger noch kontrollieren. Dazwischen soll sich nach Angaben verschiedener Nachrichtenagenturen irgendwo das Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte im Osten befinden. Aktuell ist nicht bekannt, wie gut Slowjansk und Kramatorsk und vor allem das Gebiet vor ihnen befestigt sind.
Und: Der Bahnhof von Kramatorsk spielt laut Süddeutscher Zeitung (SZ) eine zentrale Rolle bei Transporten der ukrainischen Armee zu verschiedenen Frontabschnitte. Von hier aus fahren zum Beispiel Züge in den Nordosten nach Isjum (Region Charkiw) oder nach Cherson, direkt an die südliche Front. Der Fokus gilt vorerst aber Bachmut, rund 15 Kilometer südlich von Soledar gelegen.
Der britische Geheimdienst befürchtet, die dortigen ukrainischen Truppen könnten von Norden her eingekesselt werden, sollte Soledar fallen. Dem widerspricht die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW). „Auch wenn die großzügigsten russischen Behauptungen in Betracht gezogen werden, würde eine Einnahme von Soledar nicht die sofortige Einkesselung von Bachmut bedeuten“, schreibt ISW in einer jüngsten Analyse. Warum das so sei, geht aus der Einschätzung nicht hervor. Am Sonntag (8. Januar) mussten die ukrainischen Truppen stattdessen Pidhorodne aufgeben, einen kleinen Ort kurz vor Bachmut.
Bei Einnahme von Soledar durch Russland: Bachmut in Gefahr - und auch Kramatorsk sowie Slowjansk?
Wäre der Weg frei für die russische Armee ins Landesinnere der Ukraine? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst deutete in einer Videobotschaft an, wie wichtig Soledar für die gesamte Front ist. Der Widerstand dort verschaffe der ganzen Armee Zeit, meinte Selenskyj.

Soledar, das früher 10.000 Einwohner zählte, hat wegen seiner Salzminen tief unter der Erde ein riesiges und weitverzweigtes Tunnelsystem. Dieses verbindet die Kleinstadt offenbar mit Bachmut. In diesen Tunneln könnten angeblich Panzer fahren, womöglich sogar hinter die Linien der Ukrainer. Das behauptet zumindest Wagner-Chef Prigoschin. „Das Sahnehäubchen obendrauf ist das Minensystem von Soledar und Bachmut, das eigentlich ein Netz unterirdischer Städte ist“, erklärte er laut t-online bei Telegram: „Es kann nicht nur eine große Gruppe von Menschen in einer Tiefe von 80 bis 100 Metern aufnehmen, sondern auch Panzer und Schützenpanzer können sich darin bewegen.“
Dies würde den russischen Truppen Schutz vor amerikanischen Himars- oder deutschen Mars-Raketenwerfern bieten, die die Ukrainer nutzen. Eine ukrainische Gegenoffensive, wie im Sommer bei Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, wäre sehr viel riskanter. Stattdessen müsste die ukrainische Armee bei Kramatorsk und Slowjansk eine neue Verteidigungslinie aufbauen. Auch, um Dnipro am gleichnamigen Fluss dahinter zu schützen. Die mit rund einer Million Einwohner drittgrößte Stadt der Ukraine. (pm)