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„Squid Game“: Wie der Serien-Hit die brutale Realität junger Menschen in Südkorea widerspiegelt

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Von: Foreign Policy

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Der Serien-Hit „Squid Game“ aus Südkorea spiegelt eine Landschaft der Verzweiflung wider. In den vergangenen 20 Jahren hatte das Land die höchste Selbstmordrate unter den Industrieländern.

Das ultragewalttätige Netflix-Survival-Drama „Squid Game“* ist eine sensationelle Dramatisierung der Verzweiflung in Südkorea, einem Land, das von der Jugend besessen ist und in dem K-Pop- und K-Beauty-Stars von Fernsehbildschirmen und Plakatwänden strahlen – zwei Branchen, die vom Glamour der Jugend angeheizt werden. In „Squid Game“ melden sich verschuldete Personen an, um an Kinderspielen teilzunehmen, die sie das Leben kosten könnten, und haben die Chance, mehr als 38 Millionen Dollar zu gewinnen.

Es ist ein völlig dystopisches und fragmentiertes Bild der südkoreanischen Gesellschaft. Doch hat die Mischung aus Jugend und Verzweiflung in diesem Land Anklang gefunden, in dem Selbstmord seit 2007 die häufigste Todesursache bei Jugendlichen ist.

„Squid Game“: Wie der Serien-Hit die brutale Realität für junge Menschen in Südkorea widerspiegelt

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hatte das Land die höchste Selbstmordrate unter den Industrieländern: 24,6 Selbstmorde pro 100.000 Einwohner in Südkorea im Jahr 2019, verglichen mit 14,5 Selbstmorden in den Vereinigten Staaten im Jahr 2017. Obwohl in Südkorea immer noch am häufigsten ältere Menschen bedingt durch Armut und Isolation Suizid begehen, nimmt die Zahl junger Menschen, die durch Selbstmord sterben, rapide zu. Zwischen 2018 und 2019 ist die Zahl der Südkoreaner unter 40 Jahren, die sich das Leben genommen haben, um 10 Prozent gestiegen, so das Korea National Statistics Office.

Die Zahl der Menschen in ihren 20ern, die an Depressionen leiden, hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. Doch ist es schwierig, in einer Kultur, die Depressionen als Zeichen von Schwäche wertet, eine Therapie zu suchen. Obwohl fast 30 Prozent der Südkoreaner irgendwann in ihrem Leben an psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Alkoholmissbrauch leiden, suchen nur 15,3 Prozent eine Behandlung auf.

Katrin Park

Der Grund für diese Verzweiflung sind wirtschaftliche Probleme, die durch die Pandemie noch verschärft werden. Südkoreaner in ihren 20ern und 30ern fühlen sich seit langem durch die Kluft zwischen Reich und Arm eingeschränkt. Sie nennen das Land „Hell Joseon“ und vergleichen es mit einem höllischen Königreich, dem man nur durch Tod oder Auswanderung entkommen kann. Ein Hochschulabschluss garantierte früher einen Arbeitsplatz – vielleicht nicht den bestbezahlten oder tollsten Job, aber immerhin einen Arbeitsplatz. Davon ist heute keine Rede mehr.

Schon vor COVID-19 war die Jugendarbeitslosigkeit fast dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Mitten in der Pandemie im November 2020 gaben fast 40 Prozent der Hochschulabsolventen ihre Suche nach einem neuen Arbeitsplatz auf.

Depressionen in Südkorea: Psychische Erkrankung wird in der Gesellschaft als Schwäche gewertet

Eine enorme Wohnungsnot in der Hauptstadtregion, in der fast die Hälfte der südkoreanischen Bevölkerung lebt, hat die Situation noch verschlimmert. Der Durchschnittspreis für eine Wohnung in Seoul hat sich in den letzten fünf Jahren aufgrund politischer Fehlentscheidungen der aktuellen Regierung in Bezug auf Hypothekenvorschriften und steuerliche Sanktionen verdoppelt. Vor vier Jahren hätte es noch elf Jahre des durchschnittlichen Jahreseinkommens eines südkoreanischen Haushalts gebraucht, um eine Wohnung in Seoul zu kaufen. Jetzt kostet eine Wohnung mehr als das Einkommen von 18 Jahren. Die Mieten sind in die Höhe geschnellt, sodass junge Leute nur noch über geringe Ersparnisse verfügen und keine Wohnung mehr haben.

Dieses von Netflix veröffentlichte Bild zeigt eine Szene aus der beliebten koreanischen Serie „Squid Game“.
Dieses von Netflix veröffentlichte Bild zeigt eine Szene aus der beliebten koreanischen Serie „Squid Game“. © Netflix/dpa

Die Zahl der Menschen in ihren 20ern, die an Depressionen leiden, hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. Doch ist es schwierig, in einer Kultur, die Depressionen als Zeichen von Schwäche wertet, eine Therapie zu suchen. Obwohl fast 30 Prozent der Südkoreaner irgendwann in ihrem Leben an psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Alkoholmissbrauch leiden, suchen nur 15,3 Prozent eine Behandlung auf.

Hinzu kommen der ständige Druck und der endlose Wettbewerb wie der brutale Bildungswettlauf, der schon im Kindergarten beginnt. Nach Angaben des National Youth Policy Institute hat jeder dritte Mittel- und Oberstufenschüler in Seoul aufgrund von schulischen Belastungen und Sorgen um seine Zukunft und Karriere schon einmal an Selbstmord gedacht. Kein Wunder also, dass Südkorea bei der Erziehung der unglücklichsten Kinder der Welt fast ganz oben auf der Liste steht.

Ende des Koreakriegs: Verbreitete Armut – Wirtschaftswachstum schlägt sich nicht in gemeinsamen Wohlstand nieder

Nach dem Ende des Koreakrieg im Jahr 1953 war Armut weit verbreitet. Aber weil alle arm waren, gab es weniger Ungleichheit. Vor allem aber gab es Hoffnung für die Zukunft – die Bergleute und Krankenschwestern, die in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Westdeutschland gingen, um in Kohlebergwerken und Krankenhäusern zu arbeiten, wussten, dass ihre Kinder zu Hause ein besseres Leben haben würden.

Das rasche Wirtschaftswachstum hat sich leider nicht in einem gemeinsamen Wohlstand niedergeschlagen. Die Wohnungskrise hat junge Menschen, die in Wohlstand geboren wurden, nicht betroffen, da sie Häuser bar bezahlen oder Wohnungen leer stehen lassen, anstatt sie zu einem niedrigen Preis zu vermieten. Im Jahr 2017 wählte eine Rekordzahl junger Wähler Moon Jae-in zum Präsidenten, als er versprach, eine faire und gerechte Gesellschaft zu schaffen, in der jeder, der bereit ist, hart zu arbeiten, ein Haus besitzen und eine Familie gründen kann.

Dies ist nicht geschehen. Die Korruption unter den Eliten hat sich fortgesetzt. Regierungsbeamte profitierten durch Mieterhöhungen und Grundstücksspekulation von der Wohnungskrise. Der Justizminister wurde wegen Bestechung und Betrugs angeklagt. Eine der Anklagen bezog sich auf die unrechtmäßige Zulassung seiner Tochter zu einer Universität – ein wunder Punkt, denn ein Eklat um eine Hochschulzulassung stand am Anfang des Korruptionsskandals, der Moons Vorgänger zu Fall brachte.

Südkorea: Kein Land für junge Menschen – „Selbstmord ist zu einer allgemeinen Krise geworden“

Perspektivlosigkeit und soziale Immobilität haben junge Leute in die Arme der wichtigsten konservativen Oppositionspartei getrieben, die bei den Bürgermeisterwahlen im April deutliche Wahlsiege einfuhr. Die Oppositionspartei witterte eine Revolte der Jugend gegen Moon und wählte kurzerhand einen 36-jährigen ehemaligen Unternehmer zu ihrem Vorsitzenden, was angesichts seiner Jugend und Unerfahrenheit vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre.

„Selbstmord ist zu einer allgemeinen Krise geworden. Und finanzielle Notlagen wie Schulden, Arbeitslosigkeit und niedriges Einkommen können das Selbstmordrisiko deutlich erhöhen“, so Eric Elbogen, Professor für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften an der Duke University, dessen Forschung einen signifikanten Zusammenhang zwischen zunehmender finanzieller Belastung und erhöhtem Selbstmordrisiko bei amerikanischen Erwachsenen ergab. „Die durch die Pandemie ausgelöste finanzielle Belastung muss unbedingt berücksichtigt werden und birgt die Gefahr einer steigenden Selbstmordrate, was zu den enormen gesundheitlichen Folgen der Pandemie hinzukommt. Versteht man diesen Zusammenhang, kann dies dazu beitragen, die Bemühungen zur Suizidprävention zu unterstützen.“

Ein größeres offen gezeigtes Verständnis für junge Menschen würde diesen helfen, dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sie erfasst hat, entgegenzuwirken. In der aktuellen Situation bedeutet dies, die sozialen Sicherheitsnetze zu stärken und nicht nur Teilzeitjobs, sondern Vollzeitstellen mit existenzsicherndem Lohn anzubieten, um jungen Menschen eine Chance zu geben. Dies würde ihnen das Vertrauen geben, Zukunftspläne zu schmieden.

Südkorea: Land muss in Verbesserung der psychischen Gesundheit junger Menschen investieren

Außerdem sollte Südkorea auch in die Verbesserung der psychischen Gesundheit junger Menschen investieren. Das Stigma, das psychische Erkrankungen umgibt, sollte beseitigt werden. Südkoreas dynamische Popkultur aus Filmen und Musik kann umfunktioniert werden, um das Bewusstsein zu schärfen und Menschen zur Behandlung zu ermutigen – damit würde das Land sein kulturelles Kapital ausnahmsweise einmal dafür nutzen, seine jungen Menschen zu stärken, anstatt ihre Jugendlichkeit auszunutzen.

Das Land kann dabei von Finnland* lernen. Mit der weltweit ersten nationalen Kampagne zur Suizidprävention hat das nordische Land die Zahl der Selbstmorde seit 1990 um die Hälfte reduziert. Dabei wurden alle staatlichen Stellen einbezogen, um die Behandlung und Unterstützung zu verbessern, und auch die Medien bei der Berichterstattung über dieses Thema in die Pflicht genommen.

Die Einrichtung eines nationalen Systems für psychische Gesundheit und von Diensten auf kommunaler Ebene sowie die Ausbildung von mehr Fachkräften für psychische Gesundheit wären ein klarer Schritt nach vorn. Derzeit entfallen rund drei Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets des Landes auf den Bereich psychische Gesundheit.

Selbstmordreihe unter südkoreanischen Kulturikonen: Unterstützung für die Jugend auch auf berühmte Persönlichkeiten erstrecken

Für die ältere Generation wäre es sehr hilfreich, wenn sie sich bemühen würde, die Gefühle der jungen Menschen zu verstehen. Als ein neues Gesetz im Jahr 2018 die Höchstgrenze für die wöchentliche Arbeitszeit von 68 auf 52 Stunden reduzierte, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, beklagten ältere Menschen dies. Es waren ihr Schweiß und ihre Tränen, die das Land aus der Asche des Koreakrieges auferstehen ließen. Jetzt ruinieren junge Menschen, die noch nie Hunger kannten, die Wirtschaft inmitten steigender Schulden und des globalen Wettbewerbs, so ihr Denken. Anstatt den Kopf einzuziehen und hart zu arbeiten, klagen sie über Depressionen.

Vielleicht ist dies kein Zeichen von mangelnder Willenskraft oder Stärke der jungen Menschen. Vielmehr haben sich die Zeiten geändert – und die Menschen mit ihnen. Die Südkoreaner sind nicht die einzigen, die leiden – doch ist die Diskrepanz zwischen einer reichen und kulturell erfolgreichen Gesellschaft und der Verzweiflung so vieler Menschen besonders schmerzhaft.

In Südkorea sollte sich die Unterstützung für die Jugend auch auf berühmte Persönlichkeiten erstrecken, die viele junge Menschen bewundern und zu denen sie aufschauen. Ende 2019 nahmen sich das junge K-Pop-Idol Sulli, die Sängerin Goo Hara und der Schauspieler Cha In-ha das Leben, um nur einige zu nennen. Im Jahr 2020 begann die Schauspielerin und das Model Oh In-hye Suizid. Anfang des Jahres nahm sich die Schauspielerin Song Yoo-jung das Leben. Eine Selbstmordreihe unter US-amerikanischen Kulturikonen hätte eine eingehende Selbstanalyse ausgelöst. Nicht so in Südkorea.

von Katrin Park

Katrin Park ist Entwicklungsexpertin und freiberufliche Autorin.

Dieser Artikel war zuerst am 5. November 2021 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de und tz.de sind ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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