Erdogan verlegt Türkei-Wahl wohl vor – Welches Kalkül hinter dem Schritt steckt

Erdogan will die Wahl in der Türkei nach vorne ziehen. Für die Opposition ist sie aber immer noch zu spät. Grund ist womöglich eine Regel zur Abgeordnetenverteilung.
München – Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan als Machthaber in der Türkei könnte sich unerwartet schnell dem Ende zuneigen. Bei den Wahlen 2023 wird er ein letztes Mal als Staatsoberhaupt kandidieren. Ein letztes Mal hofft er auf vier weitere Jahre im Amt. Nun hat er angedeutet, das Datum der kritischen Wahl auf den 14. Mai vorziehen zu wollen. Ursprünglich war die Wahl für den 18. Juni geplant.
Der Staatschef könnte versuchen, das Gleichgewicht zwischen einer zu späten und zu frühen Wahl herzustellen: Hinter der Debatte um das Wahldatum verbirgt sich höchstwahrscheinlich eine entscheidende Regel zur Abgeordnetenverteilung.
Türkei-Wahl: Erdogan-Partei zieht Wahl wegen Überschneidungen nach vorne
Offiziell gibt Erdogans islamisch-konservative AKP mehrere terminliche Überschneidungen im Juni als Anlass für die neuen Pläne an. Der für Wahlfragen zuständige AKP-Vizechef Ali Ihsan Yavuz begründete den Schritt mit „saisonalen Bedingungen“. Dazu gehören ihm zufolge der Arbeitskalender von Saisonarbeitern, aber auch Schulprüfungen und die Ferienzeit.
Auch das islamische Opferfest am 28. Juni und die damit verbundene Pilgerfahrt nach Mekka sind offenbar ein Argument. Zehntausende Türken fliegen hierfür jedes Jahr nach Saudi-Arabien – oft schon Wochen vor dem Termin und für Aufenthalte über das Datum des Fests hinaus. Laut dem Chef der türkischen Religionsbehörde, Ali Erbas, hatten 2022 mehr als 37.000 Menschen aus der Türkei Mekka besucht. Für sie wäre dort ein Gang zur Urne nur schwer möglich. Sollte die Wahl am 18. Juni und die mögliche Stichwahl am 2. Juli stattfinden, könnte das der AKP als islamisch-konservativer Partei einen besonders großen Stimmenverlust bescheren.
Wahlen in der Türkei: Erdogan hält Juni als Wahlzeitpunkt offenbar für riskant
Der türkische Journalist Murat Yetkin, für seine Nähe zur größten Oppositionspartei CHP bekannt, führt die Datumsänderung auf wirtschaftliche und politische Gründe zurück. Erdogan habe gezeigt, dass er befürchtet, im ersten Wahldurchgang keinen Sieg erreichen zu können, schreibt Yetkin in einem Beitrag auf seiner Webseite YetkinReport. Dem Journalisten zufolge sieht Erdogan aber auch bei der Stichwahl am 2. Juli ein Risiko und keineswegs einen garantierten Sieg.
Yetkins Erklärung für die Wahltermin-Verlegung: Der positive Effekt von wirtschaftlichen Vorteilen etwa in Form von Lohnerhöhungen, die Erdogan Ende 2022 und zum neuen Jahr beschert hat, wäre im Juni und Juli längst verflogen. Zudem würde die Opposition bei der Stichwahl viel vereinter auftreten und sehr wahrscheinlich mit vereinten Kräften den Wahlgegner Erdogans unterstützen.
Bis Juli dürfte das Oppositionslager tatsächlich alle aktuellen Differenzen beseitigt haben. Nun ziehe Erdogan die Wahl nach vorne, um die Risikofaktoren gering zu halten. Sollte das Staatsoberhaupt nicht in der geplanten ersten Runde am 14. Mai final bestimmt werden, ginge es jetzt am 28. Mai in die zweite Runde.
Türkei-Wahl: Opposition und Erdogan-Regierung streiten um Datum
Die Hauptdebatte bei der Diskussion um das Datum liegt jedoch an einer anderen, womöglich viel wichtigeren Stelle. Denn ein Blick in Richtung Opposition zeigt überraschenderweise: Sie widerspricht den vorgezogenen Wahlen im Prinzip nicht. Ganz im Gegenteil: Das Oppositionslager fordert sogar eine noch frühere Wahl. Die Diskussionen drehen sich dabei um den 6. April. Denn je nachdem, ob die Wahlen vor oder nach diesem Datum stattfinden, erhoffen sich beide Seiten mehr Abgeordnete im türkischen Parlament.
Der Grund hierfür liegt im Wahlsystem der Türkei und vor allem an einer entscheidenden Änderung aus jüngerer Zeit. 2018 wurde bei den Wahlen erstmals das sogenannte „Bündnissystem“ eingeführt. Der entsprechende Entwurf von Erdogans AKP und dem ultranationalistischen Verbündeten MHP wurde vom Parlament in Ankara verabschiedet.
Der Gedanke dahinter: Angesichts der sinkenden Wählergunst wollte die AKP gemeinsam mit der MHP als ein Bündnis auftreten, um indirekt auch von den Stimmen der verbündeten Partei profitieren zu können. Ein Teil der AKP-Wähler werde zur MHP überlaufen, hatte damals der Chef des Umfrageinstituts Metropoll, Özer Sencar, der türkischen Ausgabe des US-Radiosenders Voice of America gesagt. „Die Handlung, die hier unternommen werden musste, war eine Zusammenkunft und sie haben das gemacht“, so Sencar.
Wahlen in der Türkei: Bündnissystem wird zum Problem für Erdogan
Allerdings schlossen sich auch die Oppositionsparteien CHP und IP zu einem Bündnis zusammen. Nachdem sich weitere, kleinere Oppositionsparteien wie die 2019 gegründete Gelecek (zu Deutsch: Zukunft) und die 2020 gegründete DEVA dem Bündnis angeschlossen hatten, wurde das von der Regierung eingeführte Bündnissystem für sie selbst zu einer Gefahr. Denn es galt: Sobald das Bündnis die Hürde von 10 Prozent überschreitet, gelten automatisch alle Parteien des Bündnisses über der Hürde. Bei den Wahlen sind nicht mehr die Parteien, sondern das Bündnis entscheidend.
Die Reform erlaubte es zudem, neben der Partei auch ein Bündnis zu wählen. So gab es plötzlich auch „gemeinsame Stimmen“. Von dem komplexen System zur Auszählung der Stimmen sowie zur Verteilung der „gemeinsamen Stimmen“ profitierten am Ende meist die kleinen Oppositionsparteien. Das Bündnissystem entwickelte sich dadurch zu mehr Fluch als Segen für Erdogans Partei.
Die oppositionsnahe Zeitung Cumhuriyet schrieb etwa, dass die AKP unter dem Strich Mandate verloren habe. Stattdessen profitierte neben der Opposition eher auch die MHP und konnte Sitze dazugewinnen. Ohne ein Bündnis wären sowohl der eigene Partner MHP als auch die Oppositionspartei IP an der Hürde gescheitert, was für die AKP mehr Abgeordnete bedeutet hätte. Das neue System wurde also allmählich zu einem Eigentor für Erdogan.
Türkei-Wahl: Erdogan erhofft sich Vorteil durch Änderung am Bündnissystem
Im März 2022 reichten die AKP und die MHP einen neuen Gesetzesentwurf in der türkischen Nationalversammlung ein, um das Bündnissystem abzuschwächen. Die Verteilung der Mandate sollte sich nicht mehr nach dem Bündnis, sondern wieder nach den Parteien richten. Das Bündnis sollte einzig bei der Überschreitung der Hürde ausschlaggebend sein, die zudem auf 7 Prozent gesenkt wurde. Die Verteilung der Abgeordneten sollte aber wieder nach dem alten System erfolgen. Damit wolle man verhindern, dass kleine Parteien von den Stimmen größerer Partnerparteien profitierten, so AKP-Vertreter.
Genau darum dreht sich ein Großteil der Datumsdebatte zu den Wahlen 2023. Denn die Änderung am Bündnissystem wurde - unter großem Protest der Opposition - am 6. April 2022 verabschiedet und kann erst bei Wahlen nach dem 6. April 2023 angewendet werden. Bei einer Wahl vor diesem Datum wäre immer noch das für die Opposition profitablere System in Kraft. Nach diesem Zeitpunkt wäre aber wohl jede Wahl für die Opposition mit einem Verlust an Sitzen verbunden. Durch eine Wahl am 18. Mai will Erdogans AKP offenbar sowohl riskante Überschneidungen als auch Vorteile für die Opposition verhindern. (bb)