Osteuropa-Expertin: „Das Verhältnis zu Russland wird sich in den kommenden Jahren gar nicht normalisieren können“

Eine ukrainische und eine russische Delegation haben sich heute zu weiteren Verhandlungen in der Türkei getroffen. Welche Hürden es auf dem Weg zu Frieden in der Ukraine gibt, erläutert Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse.
Berlin - Im Ukraine-Konflikt kam es heute zu weiteren Verhandlungen zwischen ukrainischen und russischen Delegierten. Das Treffen fand in Istanbul statt. Wie jetzt bekannt wird, führten die Gespräche zu konkreten Erfolgen. Russland möchte nach eigenen Angaben seine Militärpräsenz rund um die Städte Kiew und Tschernihiw massiv reduzieren. Nach Worten des russischen Vize-Außenministers Alexander Fomin geschehe dies, „um das Vertrauen zu stärken“. Zum Hintergrund dieser Entscheidung sagte er laut Deutscher Presseagentur, dass die Vorbereitung eines Abkommens über einen neutralen und nicht-atomaren Status der Ukraine bei praktischen Schritten angelangt seien.
Frieden in der Ukraine: Vieles hängt vom Begriff der „Neutralität“ ab
Vor den Verhandlungen hatte die Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse betont, dass bei den Gesprächen vieles vom Verständnis des Begriffes der „Neutralität“ abhänge. Im Interview mit tagesschau.de sagte die, dass die ukrainische und die russische Seite Neutralität sehr unterschiedlich definieren würden. Gwendolyn Sasse ist Politikwissenschaftlerin und Slawistin. Sie leitet das Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOIS) in Potsdam und ist außerdem Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Oxford.
„In Russland ist von Neutralität fast immer im Zusammenhang mit Entmilitarisierung gesprochen worden“, sagte Sasse im Interview. Unklar sei, was dies genau bedeuten sollen, ob damit gemeint sei, dass die Ukraine keine eigene Armee zur Verteidigung des Landes haben dürfe. „Darauf würde sich die Ukraine natürlich nicht einlassen“, so Sasse. Über einen Nicht-Beitritt der Ukraine zur NATO, also einer Bündnisfreiheit, könne man verhandeln. Das habe der ukrainische Präsident im Vorfeld bereits mehrmals ins Spiel gebracht. „In anderen Bereichen der Politik kann man sich eine Neutralität in der Ukraine nur schwer vorstellen“, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Frieden in der Ukraine: Was ist mit der Krim und den Gebieten im Donbass?
Im Hinblick auf die von Russland annektierte Krim und die besetzen Gebiete im ostukrainischen Donbass zeigte sich Sasse pessimistischer. Hier würden die Forderungen beider Länder stark auseinandergehen. Die Osteuropa-Expertin geht nicht davon aus, dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Annexion der Krim akzeptieren werde - das Gleiche gelte für die Unabhängigkeit der ostukrainischen Gebiete. Dies seien zwar Putins wichtigste Forderungen, auf diese „will sich Selenskyj momentan nicht einlassen“. Dass sich die russischen Truppen vollständig in die von Separatisten besetzen Gebiete zurückziehen, sieht Sasse als unwahrscheinlich an.
Ob der ukrainische Präsident die besetzen Gebiete bereits aufgegeben hat, kann Sasse nicht beurteilen. „Das ist schwer zu sagen“, sagte sie. Selenskyjs Rhetorik klinge nicht danach. Man könne es aber als Zugeständnis an Russland ansehen, dass der ukrainische Präsident offenbar nicht denke, man könne die genannten Gebiete wieder voll in die Ukraine integrieren.
Frieden in der Ukraine: Würde die Bevölkerung zustimmen?
Ob die ukrainische Bevölkerung den Verlust der Gebiete akzeptieren würde, ist laut Sasse „die große Frage“. Im Hinblick auf ein Referendum sagte sie: „Ich kann mir momentan unmöglich vorstellen, dass ein Neutralitätsstatus, eine Bündnisfreiheit der Ukraine, zu der dann noch territoriale Verluste hinzukämen, von der Bevölkerung in einem Referendum angenommen wird.“
Dass die Sanktionen für Russland auch nach Ende eines Krieges noch weiter anhalten werden, davon geht die Politikwissenschaftlerin aus. „Das Verhältnis zu Russland wird sich in den kommenden Jahren gar nicht normalisieren können“, so Sasse. „Die Logik von Sanktionen besteht darin, dass sie eines Tages aufgehoben werden können - aber in der jetzigen Situation und auch nach einem Kriegsende ist schwer vorstellbar, dass die Sanktionen zurückgenommen werden.“ Sie seien nicht an ein bestimmtes Friedensabkommen gekoppelt. (jb)