„Achillesferse der Nato“: Militärexperte erklärt die Bedeutung Kaliningrads
Seit dem vergangenen Wochenende ist Kaliningrad in aller Munde. Doch was hat es mit der russischen Exklave auf sich? Militärexperte William Alberque gibt die Antwort.
Kaliningrad - Wie lange wird der blutige Konflikt in der Ukraine noch andauern? Über diese Frage wird seit nun mehr vier Monaten spekuliert, eine klare Antwort steht allerdings noch aus - nicht zuletzt wegen der anhaltenden Kämpfe in der Ukraine. In den vergangenen Tagen rückte jedoch eine besondere Stadt in den Mittelpunkt, die fernab vom Kriegsgeschehen eine wichtige Rolle einnehmen könnte: Kaliningrad, die russischen Exklave an der Ostsee, eingequetscht zwischen Polen, Litauen und Belarus.
Streit um Kaliningrad: „Blockade“ oder doch reguläres Vorgehen?
Am Samstag hatte Litauen den Transit von Waren, die auf der EU-Sanktionsliste stehen, über sein Territorium - und damit nach Kaliningrad - untersagt. Die Stadt, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu Deutschland gehörte und den Namen Königsberg trug, ist seitdem von 40 bis 50 Prozent des Transits aus Russland abgeschnitten. Während Russlands Außenministerium von einer „offen feindseligen“ Handlung spricht und sogar „Vergeltung“ androhte, betont Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis die Legitimität des Vorgehens: „Es ist nicht Litauen, das etwas tut - es sind die europäischen Sanktionen, die am 17. Juni in Kraft getreten sind.“

Die EU betonte hingegen, dass es sich dabei keineswegs um eine „Blockade“ handele, der Transitverkehr auf dem Landweg sei weder gestoppt noch verboten worden. Als Hauptstützpunkt der Ostseeflotte ist Kaliningrad eine wichtige strategische Stadt für Russland, die sogar über den Ausgang des Kriegs in der Ukraine entscheiden könnte, wie Militärexperte William Alberque vom „International Institute for Strategic Studies“ gegenüber t-online erklärt.
Kaliningrad: Atomraketen könnten Berlin erreichen
„Die Stadt war schon immer eine relativ große Bastion russischer Truppen, es ist ein sehr wichtiger Marinestützpunkt für sie. Sie haben dort Artillerie, Raketen und Flugzeuge und auch ein Nuklearwaffen-Lager, das gerade erneuert wurde“, schildert Alberque. In diesem Lager seien sogenannte SS-26-Iskander-Raketen zu finden, die auf eine Reichweite von ungefähr 500 Kilometern kommen. „Von Kaliningrad abgefeuert, könnten sie tatsächlich Berlin erreichen“, warnt der Militärexperte. Eigentlich seien diese Flugkörper mit einem konventionellen Sprengkopf ausgestattet, könnten bei Bedarf aber auch mit einem atomaren Sprengkopf ausgestattet werden.
Die Stadt an der Ostsee spielt zudem eine wichtige Rolle im laufenden Konflikt mit der Ukraine. Wie Alberque erläutert, habe Russland große Teile seiner Marineanlagen in dem Seegebiet aus St. Petersburg nach Kaliningrad verlegt, zudem seien von dort zahlreiche Landungsboote über das Mittelmeer ins Schwarze Meer gebracht worden.
Kaliningrad: Eine Stadt als Dorn im Auge der Nato
Die besondere geografische Situation im Baltikum ist auch der Nato schon länger ein Dorn im Auge: Die Landgrenze zwischen Polen und Litauen wird durch Kaliningrad begrenzt - das westliche Militärbündnis spricht hierbei von der sogenannten Suwalki-Lücke. „Die Russen könnten Kaliningrad als Flugverbotszone nutzen, die dem Feind das Gebiet unzugänglich macht“, so Alberque über die „Achillesferse der Nato“. Mit ihren Truppen in Pskow könnte Russland dann alle eintreffenden Flugzeuge abschießen und sich so Stück für Stück im Baltikum vorarbeiten. „Das war schon immer die große Angst, die von der Suwalki-Lücke und Kaliningrad ausgeht.“ Daher finden sich in der Enklave auch viele bodengestützte Luftabwehrsysteme der russischen Armee, so der Experte.

Als entspannender Faktor könnten allerdings zwei andere Länder wirken, nämlich Finnland und Schweden, die beide der Nato beitreten wollen. Durch die Stärkung der Bündnissen könnte Russland zur Überzeugung kommen, dass das Konstrukt um Kaliningrad nicht mehr stabil genug sei, befindet Alberque: „Dann könnte der Kreml tatsächlich wieder an den Verhandlungstisch kommen, um sein Risiko in der Region zu begrenzen - und wir würden das mit bestehenden Rüstungskontrollvereinbarungen tun und sie stärken. Ich schließe das als Möglichkeit nicht aus.“
Kaliningrad: Ausgangspunkt für eine neue Politik Russlands
Derzeit halte er diese Entwicklung dennoch für unwahrscheinlich, da Putin aktiv Kriegsverbrechen Vorschub leiste. „Aber ich denke, dass wir in Zukunft bei einem Russland ankommen könnten, das versucht sein Risiko und seine eigene Verwundbarkeit in dieser Region zu verringern.“ (to)