Klingbeil will Sicherheit vor Russland: Die SPD bekennt ihre Fehler, Merkel nicht

Im Zeichen des Ukraine-Krieges revidiert die SPD ihre Haltung gegenüber dem Kreml und räumt mit alten Irrtümern auf. Die Union jedoch bleibt verstrickt in Merkels Russland-Kurs der Gefälligkeit. Ein Kommentar von Georg Anastasiadis.
SPD-Chef Lars Klingbeil hat den Glaubensbekenntnissen seiner Partei einige neue Sätze hinzugefügt, die in ihrer grundstürzenden Klarheit manche altgedienten Genossen tief erschüttern dürften. Erstens: Die noch im Wahlprogramm 2021 enthaltene Aussage, dass es Sicherheit und Stabilität in Europa nur mit und nicht gegen Russland geben könne, habe keinen Bestand mehr. Zweitens: „Russland hat sich aus dem System der gemeinsamen Sicherheit und der gemeinsamen Werteordnung verabschiedet.“ Woraus der SPD-Vorsitzende drittens folgert: „Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren.“
Ukraine-Krieg: SPD räumt ihre alten Fehler bei Einschätzung der Kreml-Politik nun unumwunden ein
Ja: Man kann der SPD ihre lange Tradition russlandpolitischer Fehler und Kumpaneien vorwerfen, erwachsen aus historischen Schuldkomplexen und dem neurotischen Hang zur Verklärung der Kreml-Politik auch dann noch, als nur noch die Kurzsichtigsten Putins brutale, auf Mord und Eroberung angelegte KGB-Methoden nicht sehen wollten. Aber immerhin räumt die Partei, nach einigem Zögern, ihre Irrtümer nun unumwunden ein. Die bittere Wahrheit ist: Solange nicht nur Putin, sondern Russlands Eliten insgesamt nicht von ihrer geradezu religiösen Besessenheit von der Vereinigung heiliger russischer Muttererde lassen wollen, bleibt dem Rest Europas nur die Perspektive eines vielleicht auf Jahrzehnte angelegten neuen Kalten Krieges.
Während sich die eine deutsche Volkspartei nach einem unsanften Erwachen in der neuen Realität also ehrlich macht, bleibt die andere gefangen in immer abenteuerlicheren Rechtfertigungsversuchen für ihre falsche Politik der Vergangenheit, die ihre wirtschaftlichen (Schein-)Erfolge vor allem der Unbekümmertheit verdankt, sich zwei aggressiven Diktaturen, Russland und China, ausgeliefert zu haben. Ex-Kanzlerin Angela Merkel hat sich nun sogar zu der trotzigen Behauptung verstiegen, ihre auch noch nach der Krim-Annexion verfolgte Kuschelpolitik gegenüber dem Kreml sei „rational und nachvollziehbar“ gewesen, da sie Deutschland Zugang zu billigem Gas verschafft habe.
Merkels Deutschland hat sich zwei aggressiven Diktaturen schutzlos ausgeliefert
Wie bitte? Nicht nur in den Ohren von Putins Opfern muss diese Rechthaberei wie Hohngelächter klingen. Sie ist überdies eine unverfrorene Ausrede für fehlenden geostrategischen Weitblick: Im magischen Dreieck der Energiepolitik – Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit – war es noch nie eine gute Idee, die Wirtschaftlichkeit, sprich den Preis, absolut zu setzen und alles andere zu ignorieren. Merkels Große Koalition erschöpfte sich im Wunsch, gefällig zu sein: Dafür stieg sie aus Atom und Kohle aus (leider ohne den teuren Ausbau der Erneuerbaren zugleich energisch genug voranzutreiben), außerdem aus der Landesverteidigung und dem Schutz der Grenzen vor unkontrollierter Migration.
Überhöht wurde dieser sträfliche Leichtsinn noch mit dem penetrant vorgetragenen Anspruch moralischer Überlegenheit. Und für all das zahlt nicht nur Deutschland einen hohen Preis. Auch die Merz-Union wird sich aus ihren Verstrickungen nicht befreien können, wenn sie es nicht endlich schafft, die Gas- und Russland-Politik ihrer 16-Jahre-Kanzlerin klipp und klar als das zu benennen, was es zu allen Zeiten (und nicht nur rückblickend) war: ein großer historischer Fehler. An Warnungen, übrigens auch in unserer Zeitung, hat es nie gefehlt.
Georg Anastasiadis