Was westliche Waffen bringen: In Cherson hat die Ukraine nun offenbar entscheidenden Vorsprung

Im Kampf um Cherson hat sich das Blatt für die Ukraine offenbar gewendet - auch dank der Waffen aus dem Westen. „Wir können sie erreichen und sie uns nicht“, so ein ukrainischer Kommandeur.
Cherson - Die ukrainische Gegenoffensive im Osten Charkiws und im Norden von Cherson begann gegen Ende August und Anfang September. Seitdem konnte die Ukraine zahlreiche Quadratkilometer ihres Landes zurückerobern. Die Waffenlieferungen aus dem Westen spielten dabei eine entscheidende Rolle. Denn offenbar hat die ukrainische Artillerie im Kampf um den Süden nun eine größere Reichweite und höhere Präzision als die russischen Streitkräfte.
David gegen Goliath? Ukraine gewinnt in Cherson offenbar die Oberhand
Zu Kriegsbeginn waren sich Militärexperten einig, dass die ukrainische Armee der russischen auf dem Papier unterlegen sei. Doch die Moral der Ukrainer, die für ihr Land und ihre Freiheit kämpften, erhöhte den Gefechtswert der Truppen enorm. Gleichzeitig weisen zahlreiche Berichte auf einen Mangel an Waffen, Führung und Moral bei den russischen Streitkräften hin.
Der Ukraine-Krieg ist zu großen Teilen ein Luftkrieg mit Artillerie, Raketen und Drohnen. Zu Beginn hatte Russland die Oberhand und konnte ukrainische Städte und militärische Ziele von Positionen aus beschießen, die weit außerhalb der Reichweite ukrainischer Waffen lagen, hieß es in einem Bericht der New York Times vom Samstag. Doch das Blatt hat sich offenbar gewendet. Dank der Lieferung von leistungsstarken Waffen aus dem Westen und von der Ukraine selbstgebauten Drohnen haben die ukrainischen Truppen nun eine Artillerieüberlegenheit in Cherson. Die US-Zeitung bezieht sich hierbei auf Informationen von Militäranalysten und Kommandeuren vor Ort.
Artillerie: Bezeichnung für Truppengattung und Waffentyp
Der Begriff Artillerie bezeichnet einerseits eine Truppengattung, andererseits aber auch den Waffentyp, den diese Truppe einsetzt. Artilleristen unterstützen die Kampftruppe des Heeres mit dem Einsatz von großkalibrigen Waffen mit größerer Reichweite, etwa Haubitzen oder Raketenwerfern. In der Ukraine kommen auch Drohnen zum Einsatz.

Ukraine hat offenbar Vorsprung bei Reichweite und Präzision der Waffen
Die Ukraine hat laut New York Times-Bericht in Cherson momentan einen Vorsprung bei der Reichweite ihrer Waffen sowie bei präzisionsgelenkten Raketen und Artilleriegranaten. Dies ist eine Waffenklasse, die in Russlands Arsenal weitgehend fehlt. Damit gelingt es ukrainischen Soldaten offenbar, gepanzerte Fahrzeuge im Wert von Millionen US-Dollar auszuschalten. Hierfür kommen teils sogar billige, selbstgebaute Drohnen zum Einsatz, aber auch fortschrittlichere Drohnen und anderen Waffen aus dem Westen.
Die New York Times sieht den Drohnenangriff auf Schiffe im Heimathafen der Schwarzmeerflotte als Beweis für die erstarkten ukrainischen Fähigkeiten. Lange habe diese Region tief im besetzten Gebiet der Krim als uneinnehmbare Bastion gegolten, so der Bericht weiter. Allerdings hatte sich Kiew selbst zunächst nicht zu den Angriffen geäußert oder die Urheberschaft bestätigt. Doch es gibt weitere Indizien auf ein Erstarken der Artelleriefähigkeiten der Ukraine. Während in Donezk noch im Sommer etwa zehn russische Artilleriegeschosse auf eines von ukrainischer Seite kamen, ist die Anzahl der Geschosse in der Region Cherson laut den Kommandeuren vor Ort nun offenbar ausgeglichen.
Zudem gebe es einen entscheidenden Unterschied in Cherson: Die Angriffe der Ukrainer hätten eine größere Reichweite und seien dank westlicher satellitengesteuerter Raketen und Artillerie deutlich präziser. Ukrainische Angriffe mit M777-Haubitzen schlagen teilweise rund 30 Kilometer hinter den russischen Linien ein. „Wir können sie erreichen und sie uns nicht“, so der Kommandeur einer Artilleriebatterie an der Cherson-Front zur New York Times. Die Feuerintensität der russischen Seite sei um das Dreifache gesunken, ergänzte der Militär und fügte hinzu: „Es ist realistisch, sie zu bekämpfen.“
Ukraine will Cherson bis Ende November befreien
Militärexperten warnen aber auch: Russland bleibt eine starke Militärmacht. Das Heer ist groß und wurde durch die Teilmobilisierung erneut verstärkt - wenn auch mit teils ineffektiven Soldaten. Die Streitkräfte verfügen über Marschflugkörper und über eine Unzahl von - wenn auch unpräzisen - Artilleriegranaten. Neben dem größten Nuklearwaffenarsenal der Welt verfügt Russland beispielsweise wohl auch über „Kinzhal“-Hyperschallraketen.
Zudem setzen Putins Truppen offenbar seit August auch die iranischen Shahed-136-Drohnen ein, wobei die Ukraine nach kurzer Anlaufzeit eine gute Strategie gegen die Waffe fand. Kiew selbst geht offenbar von einer Rückeroberung Chersons bis Ende November aus. Diesen Zeitrahmen nannte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, am Samstag.
Am Sonntag appellierte Mychailo Podoljak, der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, in einem Interview mit der Welt am Sonntag: „Wir sind bereit, jeden Preis für die Sicherheit von Europa zu bezahlen. Aber helfen Sie uns mit Waffen!“ Die Rückeroberung weiterer Gebiete im Süden und Osten der Ukraine hänge auch wesentlich von weiteren Waffenlieferungen ab, fügte er hinzu.