Treppenwitz ums Sowjet-Erbe: Warum die Ukraine im Krieg noch Strom hat – und Putin bangen muss
Russland will die Energieversorgung der Ukraine lahmlegen. Das gemeinsame Sowjeterbe ist dabei Fluch und Segen für Kiew. Auch Putin könnte es zu schaffen machen.
München – Auch blutige Raketenangriffe erlebt die Ukraine über die Weihnachtsfeiertage. Doch ein Hauptproblem der Menschen im russischen Angriffskrieg ist die Versorgung mit Strom und Wärme: Seit Wochen greift Russland gezielt die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Teils herrscht Berichten zufolge Chaos, auf Straßen, in Wohnblocks, im Schulalltag.
Dass nach diesen ausdauernden Attacken im Ukraine-Krieg überhaupt noch Strom fließt, ist laut Recherchen des Tagesspiegel eine Art historischer Treppenwitz: Es hat mit einem Erbe aus Zeiten der Sowjetunion zu tun, das Fluch und Segen zugleich zu sein scheint. Auch eine weitere Wendung könnte der Krieg in Sachen Energieversorgung bieten. Russland selbst könnte nach Einschätzung der Washington Post auf ein Problem zutaumeln.
Ukraine-Krieg: Kiew profitiert vom „militaristischen Denken“ der Sowjets – und leidet dennoch
Der Ukraine zupass komme aktuell offenbar, dass der Stromnetzbetreiber Ukrenergo just zum Beginn der Invasion in einer Erneuerung der veralteten Technik in den Umspannwerken des Landes steckte. Eigentlich frisch ausgemusterte Transformatoren könnten nun wieder eingebaut und in Betrieb genommen werden, berichtet der Tagesspiegel. „Sie sind 40 Jahre alt und nicht besonders effizient, aber sie funktionieren“, sagte der Kiewer Energiemarktexperte Dennis Sakva. Ein glücklicher Umstand sei dabei, dass die alten Gerätschaften noch nicht wie geplant recycelt wurden.
Hinzu kommt offenbar ein weiteres planerisches Spezifikum des postsowjetischen Raums. „Das ukrainische Energiesystem ist noch aus sowjetischen Zeiten für den Kriegsfall auf hohe Resilienz ausgelegt“, sagte der Politikwissenschaftler Andreas Umland dem Blatt. Das Land profitiere jetzt vom „sehr militaristischen“ Denken der Sowjetunion. Die Kapazität des Netzes genüge für ein Mehrfaches des Stromverbrauches in Spitzenzeiten.

Dennoch könnte es noch enger für die ukrainische Stromversorgung werden. Denn auch das Reservoir an altem Gerät ist erschöpflich. Ukrenergo-Chef Wolodimir Kudritskyj sprach Anfang vergangener Woche in einem Interview mit dem Portal voanews.com von bis dato mehr als 1.000 russischen Raketen- und Kamikazedrohnen-Angriffen auf die Energieinfrastruktur. Ein Ende scheint aktuell noch nicht in Sicht – Berichten über ein sich lichtendes russisches Waffenarsenal zum Trotz. Ein möglicher Blackout sei Moskaus letzter Hebel die Ukraine zu Verhandlungen zu zwingen, behauptete der Ukrenergo-Chef.
An dieser Stelle kommt die Schattenseite der gemeinsamen Vorgeschichte zum Tragen: Der Aufbau der Netze ist Moskau offenbar bestens bekannt. Russlands Ziel sei, „so viel Leid wie möglich anzurichten“, urteilte Kudritskyj. „Und sie nutzen sehr eindeutige Strategien, dem Stromnetz so viel Schaden zuzufügen wie möglich. Das bringt uns zur Annahme, dass sie von Energiespezialisten bei der Auswahl der Ziele beraten werden.“ Berichte über sehr zielgerichtete Attacken, auch auf zivile Ziele, kursieren seit Längerem.
Putin könnte Energieproblem blühen: Russlands Netz aus Sowjet-Zeiten bröckelt offenbar
Doch während Kudritskyj optimistisch auch von einem Modernisierungs-Schub für die ukrainische Energieversorgung sprach, könnten just in Russland Probleme mit maroder Technik entstehen – meint jedenfalls die US-amerikanische Washington Post. Zuletzt sei etwa eine Gaspipeline vor den Toren St. Petersburgs geplatzt, Stromausfälle hätten zudem zehntausende Menschen in Russland im Dunkeln stehen lassen.
Schlecht gewartete Infrastruktur sei ein hartnäckiges Problem in Russland: Sie sei „das Resultat von reparaturbedürftigen Systemen aus der Sowjet-Ära, Jahrzehnten grassierender Korruption und der Priorisierung von Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben sowie der Entwicklung von Großstädten anstelle von regionalen Städten“. Der russische Senator Andrej Schewtschenko habe den Investitionsbedarf 2021 auf vier Billionen Rubel beziffert, umgerechnet 53 Milliarden Euro – und schon jetzt klagten Aktivisten aus der Stadt Omsk über 40.000 Haushalte ohne funktionierende Gasversorgung.
Russland selbst vor Energieproblem? Kritiker sieht „Kipppunkt“ für Putin
Die westlichen Sanktionen könnten die Problematik noch verschärfen, heißt es in dem Artikel. Das ganze System könne „sehr schnell auseinanderfallen“, sagte der Politikwissenschaftler Nikolai Petrow vom britischen Thinktank Chatham House. „Russlands Maß an Geduld ist absolut erschöpft und jeder Tropfen könnte das Fass zum Überlaufen bringen und zu Protesten und Unruhen führen“, warnte er mit Blick auf die Macht von Präsident Wladimir Putin.
So weit wollte der frühere russische Vize-Energieminister und jetzige Oppositionspolitiker Wladimir Milow im Gespräch mit der Washington Post nicht gehen. „Es wird einen Kipppunkt geben“, urteilte er. „Es gibt eine Welle negativer Einflüsse von unterschiedlichen Seiten: Russlands ökonomische Isolation, Sanktionen und Infrastrukturprobleme. Es wird nicht alleine Proteste provozieren, aber es spielt in ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit hinein.“
Zugleich hat sich zuletzt Putin-Stütze und Gruppe-Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin öffentlich mit den verbliebenen Oligarchen im Land angelegt. Dem Kreml könnten also schwierige Monate bevorstehen – ebenso wie der Ukraine. (fn)