Ukraine-Krieg: Russlands Angriff aus psychologischem Blickwinkel: „Das hat Putin nie verstanden“

Der Ukraine-Konflikt ist eskaliert. Es droht Krieg. Wie tickt der Verantwortliche, Wladimir Putin? Ein Einblick aus psychologischer Sicht.
München - Aus dem Ukraine-Konflikt ist ein Krieg geworden. Die schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden - Russland hat einen Großangriff auf die Ukraine gestartet. Der Krieg hat begonnen. Hauptfigur der Spannungen: Russlands Präsident Wladimir Putin. Wie aber tickt der Kreml-Chef? Was bewegt den 69-Jährigen zu seinem aktuellen Handeln? Wie kann der Konflikt gelöst werden? Und wie kann der Westen dazu beitragen? Antworten und Einschätzungen von einem Transaktionsanalytiker.
Ukraine-Konflikt:„Vordergründig hat das alles eigentlich nur Nachteile für Putin“
„Wladimir Putin ist nicht dumm, er ist ein hochintelligenter Mensch“, sagt Christoph Seidenfus am Mittwoch im Gespräch mit Merkur.de. Seidenfus ist Transaktionsanalytiker und beschäftigt sich damit mit einer psychologischen Theorie der menschlichen Persönlichkeitsstruktur. Er ist Experte für die Psychologie in Organisationen und Institutionen, also auch im Bereich der Politik.
Was ist Putins Absicht? „Vordergründig hat der ganze Konflikt eigentlich nur Nachteile für ihn“, sagt der Transaktionsanalytiker aus Schliersee. „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, kostet ihn das Geld, Zustimmung und in der internationalen Weltgemeinschaft wird er geächtet dafür. Warum sollte er also so etwas tun?“ Um diese Frage zu beantworten, müsse man verstehen, was Putin antreibt.

Ukraine-Russland-Konflikt psychologisch erklärt: „Das hat Putin nie verstanden“
Seidenfus erklärt die aktuelle Situation Russlands mit dem psychologischen Konzept der Grundhaltungen. „Dabei geht es um die Frage: Wie begegne ich mir und der Welt?“ Der ideale und wünschenswerte Zustand ist eine sogenannte Gleichaugenebene, auch Plus-Plus-Haltung genannt, in der man sich respektiert, auf Augenhöhe begegnet. Davon gibt es zwei Abweichungen: Zum einen die Minus-Plus-Haltung, in der man sich tiefer als das Gegenüber stellt. „Getreu dem Credo: Der andere ist ganz toll, ich aber nicht.“ Zum anderen die eher arrogante Plus-Minus-Haltung. „Man agiert zum Beispiel überheblich nach dem Motto: Ich bin besser, der andere schlechter.“
Die arrogante Haltung kommt zustande, wenn Menschen kein Interesse daran haben, eine Situation durch eigenen Willen zu verbessern. „Dafür müsste man sich ja mit sich selbst intensiv auseinandersetzen - und das ist oft eine emotional belastende Angelegenheit. Das ist nicht lustig.“ Deshalb würden Betroffene ihre eigene Definition der Geschichte erzählen: „Nicht ich bin der schlechte, sondern der andere ist nicht in der Lage meine Genialität zu erkennen.“ Heißt: Man nimmt selbst die Plus-Haltung ein und stellt den anderen auf Minus. Der Vorteil: „Man braucht sich nicht mit dem eigenen Anteil an gegenwärtigen und vergangenen Problemen auseinandersetzen.“
Seidenfus sieht das Plus-Minus-Modell perfekt auf Putin zugeschnitten. „Er hat es nie verstanden, dass es langfristig für ihn und sein Volk viel besser wäre, Kooperationen einzugehen, auf selber Augenebene zu agieren.“ Putin gehe es nicht um wirtschaftliche Aspekte oder um das Wohlwollen der russischen Bevölkerung. „Er will Macht und Einfluss. Deshalb verhält er sich so, wie er es gerade tut.“
Natürlich ist es schwierig, demjenigen die Hand zu reichen, der erwiesenermaßen ein Gegner ist
Ukraine-Konflikt: „Streicheleinheiten“ für Wladimir Putin? „Er sieht, dass sich andere von ihm abwenden“
Seidenfus spricht in diesem Zusammenhang von „sehr rückwärtsgewandten“ Äußerungen Putins und meint Texte, in denen der Kreml-Chef den Zerfall der Sowjetunion 1991 als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ beschrieben hat. Nach 1991 musste Putin erleben, wie sich die 15 Teilrepubliken immer mehr von Russland lösten. In dieser Zeit nahm die Ukraine-Krise ihren Anfang. „Alle wollten in den Westen, in die EU, in die Nato.“ Eine Entwicklung, die dem Staatschef nicht gefallen kann, sagt Seidenfus, der politische Kommunikation an der LMU München studiert hat: „Die Russen haben also erlebt, dass sie über Jahrzehnte unattraktiv waren. Psychologisch tut das nicht sehr gut.“
Deshalb hätte Putin vor der Eskalation des Konflikts auch Respekt eingefordert. „Russland ist ein machtbewusstes Land. Von dieser Macht ist aber nicht mehr viel übrig.“ Auch im Vergleich mit der Großmacht China hätte Russland klar das Nachsehen, was etwa die Wirtschaftsfähigkeit betrifft. „Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der jemand wenig Anlass hat, stolz auf etwas zu sein. Dabei ist Russland von der Art her durchaus stolz; dieser Stolz richtet sich allerdings an die Zeit vor 1991. Wir waren doch mal stolz, wir waren doch mal groß.“ Diese Karte zeigt die bereits eroberten Gebiete im Ukraine-Krieg.
Mittlerweile habe sich die Situation geändert. „Putin sieht, dass sich andere von Russland abwenden.“ Aus psychologischer Sicht brauche es in einer solchen Situation „Streicheleinheiten“. Putin benötige „Verständnis und den Respekt, den er eingeklagt hat“. Der Westen habe nicht verstanden, dass es hilfreich sei, ihm das zu geben, meint Seidenfus. „Verdient er das? Nein, natürlich nicht. Hat er ein Recht darauf? Nein, natürlich nicht. Es wäre aber dennoch hilfreich, für den anderen die Brücke zu bilden, wieder auf eine Ebene zu kommen und sich mit der Weltgemeinschaft zu verbinden.“ Der Westen habe es verpasst, „sich in die Schuhe des anderen zu stellen“. Keine leichte Aufgabe. „Natürlich ist es schwierig, demjenigen die Hand zu reichen, der erwiesenermaßen ein Gegner ist.“ Putin sei „kein einfacher Gesprächspartner“, aber es lohne sich „innezuhalten und der Gegenseite doch mal zuzuhören“.

Ukraine-Konflikt: Putin wählt Bedrohungsstrategie - „Das ist gefährlich“
Der Westen hat immer wieder mit Abweisung in Richtung Putin reagiert und „ihn vor die Tür gesetzt“, wie Seidenfus sagt. 2014 wurde Russland aus den G8-Nationen gestrichen (seitdem: G7). Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Putin selbst nicht immer Lust auf Kooperation hatte. Zuletzt wurde er etwa zur Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen - erschien jedoch nicht.
Wie Putin dem Westen begegnet, ergibt sich laut Seidenfus auch aus seiner eigenen Selbstreflexion. Wenn ein Mensch dauerhaft unzufrieden mit seiner jetzigen Situation ist, gebe es zwei Möglichkeiten. „Entweder man bleibt eher passiv und sieht wenig Möglichkeiten für sich selbst. Das kann zu Depression und Energielosigkeit führen, tut aber niemandem anderen weh. Die zweite Möglichkeit ist das offensive Wehren. In Bedrohungssituationen reagieren Menschen mit Flucht- oder Aggressionsinstinkten. Sie werden weniger einschätzbar. Das ist gefährlich.“
Die Thematik wird umso gefährlicher, wenn man bedenkt, dass Russland im Ukraine-Konflikt selbst festzulegen scheint, wann es sich bedroht fühlt. „Auch wenn das objektiv Quatsch ist“, sagt Seidenfus. Am Dienstag verlautete das russische Außenministerium, es plane „im Moment“ keine Entsendung von Soldaten in die Ostukraine. Man werde dies allerdings „im Fall einer Bedrohung“ tun. Keine 48 Stunden später bombardierte Russland die Ukraine.
Ukraine-Konflikt: Wie Putin sich sein eigenes Weltbild schafft
Vor der jüngsten Eskalation des Konflikts betonte Putin immer wieder, dass Russland keine kriegerischen Absichten habe. „Wir wollen natürlich keinen Krieg“, sagte er etwa bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Olaf Scholz Mitte Februar. Wie sind solche Aussagen einzuordnen? „Als Privatmann würde ich sagen: Er lügt“, meint Seidenfus. „Als Transaktionsanalytiker frage ich nach seiner Wirklichkeitskonstruktion in dieser Situation.“ Putin würde sich sein eigenes Weltbild schaffen. „Er will etwas wiederherstellen, von dem er glaubt, dass Russland ein Recht darauf hat.“ Ein Weltbild, das innerhalb Russlands durchaus ankomme.
„In Russland gibt es eine lange Tradition der Stärke, egal ob im Zarenreich oder der Sowjetunion. In Russland wird es vielfach als eine solche Stärke angesehen, dem Westen den sprichwörtlichen Bären aufzubinden, siehe die „Grünen Männchen“ bei der Annektion der Krim, von denen Russland angeblich nichts wusste. Um einige Zeit später zuzugeben, dass es natürlich russische Soldaten gewesen seien. Wir im Westen würden sagen, das ist ein Verstoß gegen Aufrichtigkeitsgebote; man lügt den anderen nicht an.“ Putin agiere als ein „gewiefter Taktiker, der sich jede Schwäche des Gegners zu nutzen macht. Das ist ein bisschen so, wenn Kinder Eltern austesten, wie weit sie gehen können, bevor es knallt.“
Unabhängig davon, ob man die russische Sicht gutheiße, müsse man sie aber zumindest nachvollziehen können. „Nur wenn man die andere Sicht kennt, kann man sich darauf einlassen. Und dann zum Beispiel damit rechnen, dass man es mit einem Verhandlungspartner zu tun bekommt, bei dem man sich auf sein Wort nicht zu sehr verlassen kann.“ Das hat der Westen nun auf dramatische Art und Weise erfahren. Alle News zum Ukraine-Konflikt in unserem Live-Ticker. (as)
Redaktioneller Hinweis: Das Gespräch führten wir am Mittwoch, also bevor Russland die Ukraine bombardiert hat.