Zittern vor Putins Großoffensive: Experten zeigen drei Ukraine-Szenarien auf

Die Experten des ISW sehen bei der russischen Armee Vorbereitungen für eine neue Großoffensive in der Ukraine. Zwei mögliche Ziele werden genannt.
München/Luhansk/Kiew – Es wäre der erste militärische Erfolg der russischen Armee im Ukraine-Krieg seit Frühjahr 2022. Die Kleinstadt Soledar im Donbass wurde nach Angaben aus Moskau zuletzt eingenommen und die ukrainischen Streitkräfte an der Front angeblich zurückgedrängt.
Ukraine-Krieg: Plant Russland eine neue Großoffensive?
So lautet zumindest die Version des Kreml, die Kiew vehement bestreitet. Dennoch nehmen die Hinweise zu, dass die ukrainischen Verteidiger im Donbass zunehmend in die Defensive geraten. Was Russland bald zu einer Großoffensive nutzen könnte?
Das erwartet zumindest das renommierte Institute for the Study of War (ISW). Die US-amerikanische Denkfabrik hat sich aus westlicher Perspektive zu einer der führenden Experten-Einschätzungen entwickelt. Das ISW beschreibt, dass Kreml-Machthaber Wladimir Putin eine neue Großoperation in Auftrag gegeben habe – und nennt Moskaus Maßnahmen, die darauf hindeuten.
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Russische Armee: Moskau stockt seine Truppen auf und stellte neue Wehrkreise auf
1. Maßnahme Moskaus: Fokus auf konventionelle Kriegsführung. „Der Kreml bereitet sich wahrscheinlich darauf vor, in den nächsten sechs Monaten eine entscheidende strategische Aktion durchzuführen, die darauf abzielt, die Initiative wiederzuerlangen und die derzeitige Reihe von operativen Erfolgen der Ukraine zu beenden“, heißt es im ISW-Papier.
Demnach plane der Kreml „Maßnahmen, um die ‚besondere Militäroperation‘ wie einen großen konventionellen Krieg zu führen“. So habe Putin Anfang Dezember 2022 versprochen, „dass Russland die Fehler seiner früheren Militärkampagnen verbessern und die Bedingungen für einen langwierigen Krieg in der Ukraine schaffen werde“.
2. Maßnahme Moskaus: Aufstockung der Truppenstärke und Aufstellung neuer Wehrkreise. Laut ISW gab Putin die Bildung neuer Divisionen und die Wiedereinführung von Militärbezirken in Westrussland in Auftrag. Zudem soll das Wehrpflichtalter angehoben werden, und zwar von derzeit 18 bis 27 Jahren auf 21 bis 30 Jahre. All dies ziele laut ISW darauf ab, „das russische Militär so zu reformieren, dass es groß angelegte konventionelle Kriegshandlungen durchführen kann“. Heißt: mögliche Großoffensiven.
Noch ein Indiz: Putin hatte kurz vor Silvester das Verteidigungsministerium damit beauftragt, die Zahl der russischen Soldaten von 1,15 Millionen auf 1,5 Millionen zu erhöhen. ISW verweist darauf, dass der ukrainische Geheimdienst sogar eine Aufstockung auf zwei Millionen Soldaten erwarte. So gebe es „ernsthafte Vorbereitungen für eine mögliche zweite Mobilisierungswelle“. Just an diesem Dienstag (17. Januar) kündigte Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu einen Umbau der russischen Armee an. Demnach sind zwei große Territorialeinheiten geplant, laut Deutscher Presse-Agentur (dpa) „ein Moskauer und ein Leningrader Wehrkreis“. Ferner kündigte Schoigu die Aufstellung eines Armeekorps in der nordrussischen Teilrepublik Karelien an, was die dpa als Reaktion auf den geplanten NATO-Beitritt der skandinavischen Länder Schweden und Finnland wertet.
Ukraine-Krieg: Geballte russische Befehlsgewalt bei Generalstabschef Waleri Gerassimow
3. Maßnahme Moskaus: Befehlsgewalt bei Generalstabschef Waleri Gerassimow. Putin hatte am 11. Januar Generalstabschef Waleri Gerassimow zum Oberbefehlshaber über die Truppen in der Ukraine ernannt. Der Kreml versuche dadurch, „Mängel in der Kommandostruktur zu beheben“, analysiert ISW. Das russische Verteidigungsministerium ernannte zudem drei Stellvertreter, die mit Gerassimow einen „Großeinsatz im Jahr 2023 übernehmen“ könnten.

4. Maßnahme Moskaus: „Wiederbelebung der Verteidigungsindustrie“. Putin habe seit Dezember „mehrere hochrangige Treffen abgehalten und Verteidigungsunternehmen im ganzen Land besucht“. Der russische Präsident habe ferner öffentlich Probleme bei der Versorgung mit Rüstungsgütern eingestanden und seine Minister aufgefordert, staatliche Beschaffungsaufträge schneller zu erteilen. Auch eine Verstaatlichung von Eigentum sei im Gespräch.
Russland: Moskau will die Propaganda zum Ukraine-Krieg wieder kontrollieren
5. Maßnahme Moskaus: Propaganda zum Ukraine-Krieg kontrollieren. Moskau ergreife Maßnahmen, „um die Kontrolle über die Kriegsberichterstattung wiederzuerlangen“, schreibt ISW. Es ist ein Fingerzeig, dass zuletzt offenbar immer mehr russische Militärblogger die öffentliche Meinung mitbestimmten.
So warnte etwa der russische Ex-Geheimdienstler Igor Girkin öffentlich vor einem Bürgerkrieg in Russland. Der Kreml intensiviere deshalb seine Bemühungen, „Beziehungen zu prominenten Kriegsbefürwortern zu knüpfen“. Umgekehrt würden Propagandisten des Kreml von völkerrechtlichen Konsequenzen berichten, „die Russland erwarten, wenn es den Krieg nicht gewinnt“. Dies solle „Ängste vor einer Niederlage schüren“. Wo aber könnte eine russische Großoffensive erfolgen? Auch dazu äußert sich das ISW.
Ukraine-Krieg: Russische Großoffensive bei Luhansk? Auf Kiew? Oder Warten auf die Gegenoffensive?
1. Szenario: Großoffensive bei Luhansk: Ein Angriff sei demnach im Gebiet Luhansk am wahrscheinlichsten, das fast vollständig besetzt ist. „Die vollständige Eroberung der Oblaste Donezk und Luhansk ist nach wie vor das offizielle Kriegsziel des Kremls“, schreibt die US-amerikanische Denkfabrik. Eroberungen seien hier logistisch am einfachsten zu erreichen. Die russischen Streitkräfte haben seit 2022 zusätzliche Kräfte in die Oblast Luhansk verlegt, berichtet das ISW.
2. Szenario: Eine russische Verteidigungsoperation zur Abwehr einer ukrainischen Gegenoffensive. Ukrainische Offizielle würden ihre Absicht signalisieren, 2023 Gegenoffensiven durchzuführen, heißt es in dem Papier: „Die russischen Streitkräfte könnten versuchen, eine ukrainische Gegenoffensive erfolgreich zu vereiteln und der Ukraine die Initiative zu entziehen, indem sie einen erheblichen Teil der mechanisierten ukrainischen Streitkräfte vernichten“. Dies würde wiederum eine russische Gegenoffensive ermöglichen.
3. Szenario: Erneute russische Offensive auf Kiew. Das ISW habe zwar die Umgruppierung und Ausbildung konventioneller russischer Einheiten in Weißrussland beobachtet. Von angeblich 12.000 Soldaten schreibt die Bild. Eine mögliche russische Offensive gegen die Nordukraine aus Weißrussland bleibe jedoch „ein Worst-Case-Szenario“, das ISW „als gering, und das Risiko einer direkten Beteiligung Weißrusslands als sehr gering“ einschätzt. (pm)