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Katar-Boykott: Warum man Deutschland gegen Japan trotz allem mit gutem Gewissen schauen kann

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Von: Max Müller

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Ein Fußbballfan mit deutschem Trikot lacht und zeigt ein Peace-Zeichen.
Protest vorbei: Wenn der Ball rollt, wird Fußball geschaut. © Christoph Reichwein/Imago (Montage)

Die WM in Katar ist gestartet. Die deutsche Nationalmannschaft hat sein erstes Gruppenspiel gegen Japan. Doch viel wichtiger als die Frage, wer Weltmeister wird, ist die Antwort auf ein Dilemma: einschalten oder boykottieren? Wir haben bei einem Protestforscher nachgefragt.

Köln – Schauen oder nicht schauen? Am Sonntag ist die Fußball-Weltmeisterschaft gestartet und wem die ausufernde Turbo-Kommerzialisierung des Fußballs, intransparente Vergabeprozesse oder zumindest mit Füßen getretene Menschenrechte etwas bedeuten, der beantwortet diese Frage eindeutig: Von mir kriegen die nicht eine Minute Aufmerksamkeit, hoffentlich sinkt die TV-Quote drastisch, Sponsoren springen ab und dieser um sich greifende Wahnsinn im internationalen Fußball erlahmt ein wenig.

Doch es ist – wie immer, wenn eine Frage scheinbar nur Ja oder Nein zu beantworten ist – komplizierter. Die Haltung der überwältigenden Mehrheit ist klar. Sie finden: Eine WM in Katar auszutragen, ist ein großer Fehler. Vereinübergreifend haben Fans auf riesigen Plakaten ihrer Wut Ausdruck verliehen. Am besten sollte die Nationalmannschaft erst gar nicht in das Emirat fahren. Aber was ist mit ihnen selbst, den Fans? Wie funktioniert sinnvoller Protest?

WM in Katar: „Gute TV-Quoten würden die Vergabe nicht nachträglich legitimieren“

Die Spiele einfach nicht zu schauen, ist wenig zielführend, sagt Jürgen Mittag dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. Er forscht seit vielen Jahren an der Deutschen Sporthochschule in Köln zur Frage, wie erfolgreich Proteste im Kontext von Sportveranstaltungen sind. Für Mittag steht fest: Fanbündnisse und vor allem die Medien haben sich in erheblichem Maße engagiert. Die Katar-WM sei dermaßen schlecht beleumundet, es wäre äußerst unwahrscheinlich, dass ein sportliches Großereignis nochmals unter solch widrigen Umständen vergeben wird. Ein Blick auf die nächsten Austragungsorte der olympischen Sommerspiele – Paris 2024, Los Angeles 2028, Brisbane 2032 – zeigt, dass Boykottforderungen dort wohl ausbleiben. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2026 findet länderübergreifend in den USA, Kanada und Mexiko statt. „Da wird es nicht mal annähernd zu ähnlichen Debatten kommen“, sagt Mittag.

Im Grunde ist der wesentliche Punkt also angekommen, auch bei der Fifa. „Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er die WM schaut. Derjenige, der die WM im TV live verfolgt, muss aber kein schlechtes Gewissen haben. Gute TV-Quoten würden die Vergabe nicht nachträglich legitimieren“, so Mittag. Dabei sind diese ohnehin nicht zu erwarten, wie aus dem ARD-Deutschlandtrend hervorgeht. Darin gaben über die Hälfte der Bundesbürger (56 Prozent) an, sich keine der Übertragungen anzuschauen. 15 Prozent wollen sich weniger Spiele ansehen als bei vergangenen Weltmeisterschaften.

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Boykottdebatte wird im Großteil der Welt überhaupt nicht geführt

Protestforscher Mittag ist optimistischer. „Klar wird es weniger Public Viewing geben, einige Kneipen zeigen keine Spiele“, sagt er. „Die Vergangenheit lehrt uns aber: Wenn der Ball rollt, geht es nicht mehr um die politische Situation, dann wird Fußball geschaut.“ Dabei dürfe man auch die eigene Wichtigkeit nicht überschätzen, sagt Mittag. „Eine Fußball-WM ist ein globales Event. Die Boykottdebatte wird aber nur in Nord- und Westeuropa geführt, mit Abstrichen auch in den USA.“ In zahlreichen anderen Ländern der Welt, wie etwa Japan, seien die humanitären Rahmenbedingungen dieser WM kein Thema.

Ganz anders in Deutschland, wo sich Enthüllungsdokumentation an Investigativreport reiht. Zuletzt schockierte die Aussage von Khalid Salman, WM-Botschafters Katars. In der ZDF-Dokumentation „Geheimsache Katar“ sagte er, dass Homosexualität ein „geistiger Schaden“ sei. Mittag: „Noch nie ist so umfassend über die Missstände im Gastgeberland eines Großereignisses berichtet worden. Vor einigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass gleich mehrere Dokumentationen über kritische Zustände im Gastgeberland einer WM zur Primetime im Fernsehen laufen.“ Anlässe hätte es genug gegeben. Als die letzte WM in Moskau angepfiffen wurde, hatte Russland die Krim bereits völkerrechtswidrig annektiert. Als im Februar die olympischen Winterspiele in Peking eröffnet wurden, war längst bekannt, wie China mit den Uiguren umgeht. 

In Katar hat sich vieles verbessert – doch das reicht nicht

Zur Wahrheit gehört auch: In Katar hat sich sehr viel getan in den letzten Jahren. „Seit 2015 wurden erhebliche Verbesserungen in die Wege geleitet. Das darf nicht ignoriert werden, sollte aber auch nicht den Blick darauf verstellen, dass vieles nicht nach unseren humanitären Vorstellungen abläuft“, sagt Mittag. Das sieht auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International so. Auf dem Papier habe es einige Reformen gegeben, heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung. Dennoch müssen sich Tausende Arbeiter auf Baustellen mit oder ohne WM-Bezug noch immer mit Problemen wie verspäteten oder gar nicht gezahlten Löhnen, unsicheren Arbeitsbedingungen, Behinderungen bei einem Jobwechsel sowie beim Zugang zu juristischer Unterstützung herumschlagen. 

Anlass für Proteste gibt es also weiterhin, auch nach der WM. Der Sport als Resonanzboden gesellschaftlichem Unmuts. Für Mittag ist das mehr als eine Momentaufnahme: „Der Fußball unterliegt in Deutschland ganz anderen moralischen Ansprüchen. Dass der FC Bayern eng mit Katar kooperiert, wird skandalisiert. Dass Zehntausende Touristen in den Emiraten Urlaub machen, ist nicht mal eine Randnotiz.“

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