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Wolodymyr Selenskyj: Aus der Sitcom ins Präsidenten-Amt - „Charisma“ als Schlüssel-Waffe im Ukraine-Krieg?

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Von: Florian Naumann

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Verhandlungen mit Russland: Die Forderungen im Ukraine-Krieg werden „realistischer“.
Der „charismatische“ Kriegs-Präsident der Ukraine: Wolodymyr kämpft in olivgrün für das Überleben seines Landes. (Archivbild) © Ukrainisches Pressebüro des Präsidenten/DPA

Kann politische Fiktion Wahrheit werden? In der Ukraine geht das: Wolodymyr Selenskyj wurde vom Sitcom- zum Präsidenten - und schließlich zu einer Figur von Weltformat.

Kiew/München - Dass politische Realität ihren Weg als Fiktion auf die Bildschirme findet: Nichts Ungewöhnliches. Man denke an die Watergate-Affäre und den Filmhit „Die Unbestechlichen“. Dass politische Fiktion Realität wird, ist hingegen ein absoluter Ausnahmefall. Vielleicht sogar beispiellos. Und trotzdem ist es passiert. Weitab von Hollywood, in der Ukraine - der Protagonist der verrückten Geschichte heißt Wolodymyr Selenskyj. Jener Selenskyj, der im Ukraine-Konflikt auf einmal zu einer Figur der Weltpolitik geworden ist. Für möglich gehalten hatten das die wenigsten.

Wolodymyr Selenskyj als „Diener des Volkes“? Serien-Fiktion wurde 2019 Realität

Im Jahr 2015 war Selenskyj Comedian. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. In der Sitcom „Diener des Volkes“ spielt er die Hauptrolle - einen Geschichtslehrer, der wie die Jungfrau zum Kinde zum Amt des Staatschefs kommt. In der Fiktion ist eine zufällig von einem Schüler gefilmte Zornesrede der Schlüssel zum kometenhaften Aufstieg. „Wir haben die Wahl zwischen Pest und Cholera, und das seit 25 Jahren!“, wütet Selenskyj in seiner Rolle als Wasja Holoborodko; seine Schüler waren gerade zum Zimmern von Wahlkabinen abgeordnet worden: „Auch diesmal wird sich nichts ändern, und weißt du warum? Weil du, mein Vater und ich wieder so ein Schwein wählen werden!“

Vier Jahre später kandidierte der damals 41 Jahre Spaßmacher einfach selbst. Parallelen zu fiktiven Figuren waren selbstverständlich rein zufällig und nicht beabsichtigt. Er habe „keine Erfahrung“, sagte Selenskyj vor dem Wahltag der Nachrichtenagentur AFP dennoch in einem Interview. Er lerne aber bereits für seine mögliche neue Aufgabe: „Schließlich will ich nicht wie ein Idiot aussehen.“ Kennern der Serie könnte bei diesem Satz eine weitere Sequenz in den Sinn gekommen sein: Mit Walnüssen im Mund probt der frisch gewählte Holoborodko in „Diener des Volkes“ die saubere Aussprache - um bei seiner Antrittsrede nicht wie ein Idiot auszusehen.

Wolodymyr Selenskyj (re.) 2018 in seinem alten Leben als Spaßmacher - Kompagnon Yevhen Koshovy
Wolodymyr Selenskyj (re.) 2018 bei einer Live-Tournee - Kompagnon Yevhen Koshovy spielt in „Diener des Volkes“ den Außenminister. © Alexander Gusev/Imago

Wie sein Serien-Alter-Ego landete Selenskyj im April 2019 schließlich einen Erdrutschsieg. Wenn auch erst in der Stichwahl gegen Vorgänger Petro Poroschenko. Der Spaß war dann aber tatsächlich schnell vorbei.

Ukraine-Krise: Putin verpasste Selenskyj schon in der ersten Woche eine Breitseite

Denn ein überwölbendes Thema Selenskyjs Präsidentschaft ist von Anfang die schwer belastete Beziehung zu Wladimir Putins Russland. Fast unmittelbar nach dem Wahltag begann Russland mit der Ausgabe von Staatsbürgerschaften an Bürger der selbst ernannten Luhansker Volksrepublik - ein Affront, wenn nicht ein Eskalationsschritt. Selenskyj warnte Putin in einer seiner ersten Amtshandlungen davor, mit der Ukraine in einer Sprache der „Drohungen, des militärischen und wirtschaftlichen Drucks zu sprechen“.

Selenskyj selbst setzte indes den Frieden in der Ostukraine weit oben auf seine politische Agenda. Das Ergebnis ist - mit etwas Verzögerung - bekannt. Mittlerweile steht die gesamte Ukraine im Zentrum eines blutigen Krieges und einer Krise globalen Ausmaßes.

Einige Ukrainer befürchteten bereits nach dem Wahlsieg des selbst aus der russischsprachigen Industriestadt Krywy Rig stammenden Schauspielers das Schlimmste. Das Vertrauen im Land war gering.

Selenskyj als Präsident: Zweifel, aber auch Respekt - „Er schlägt sich nicht schlecht“

Gemessen an einigen seiner Vorgänger wirkte Selenskyjs frühe Amtszeit rückblickend aber doch recht solide. Das Urteil über sein Wirken fiel dennoch gespalten aus. Dass seine ersten Schritte auf dem internationalen politischen Parkett zögerlich ausfielen, stärkte das Vertrauen in Selenskyj zunächst nicht. „Ich glaube, unsere internationalen Partner haben es ziemlich schwer mit ihm“, sagte der ukrainische Politologe Mykola Dawydjuk. „Sie spielen auf einem sehr hohen Niveau, das er nicht erreichen kann - und nicht verstehen kann.“

Hinter vorgehaltener Hand zeigen sich einige Diplomaten aber durchaus beeindruckt von der Art und Weise, wie der Ex-Komiker die Krise mit Moskau handhabte. „Ehrlich gesagt schlägt er sich nicht schlecht“, zitierte AFP einen Diplomaten. Selenskyj bewahre einen kühlen Kopf. „Er hat einen unmöglichen Job, er ist gefangen zwischen dem Druck sowohl der Russen als auch der Amerikaner.“

Ukraine: Selenskyj wird zur internationalen Ikone - „Charisma ist ein essenzielles Attribut“

Den kühlen Kopf brauchte Selenskyj nur wenige Wochen später ganz dringend: Das Drohszenario der russischen Militärmanöver rund um die ukrainischen Grenzen wandelte sich in einen heißen Angriffskrieg des Kreml. Die Ukraine schien lange militärisch hoffnungslos unterlegen - Selenskyj aber dachte nicht ans Kapitulieren. Der Präsident setzte in Kiew zu einem nach Einschätzung vieler Experten virtuosen Spiel auf der Klaviatur der sozialen Medien an.

Selenskyj floh nicht, er blieb in Kiew und zeigte sich fortan im olivgrünen Shirt. Mit seinen Videobotschaften an das eigene, aber auch das russische Volk erwarb er sich Respekt in aller Welt. „Vor vier Monaten haben ihn alle abgeschrieben. Er war politisch bankrott“, sagte etwa der prominente Historiker Adam Tooze der Süddeutschen. Russland habe aber das Geschick des Ukrainers im virtuellen Raum nicht auf dem Zettel gehabt. „Was Selenskyj leistet, das sollte man nicht kleinreden: Charisma ist ein essenzielles politisches Attribut, und falls nichts dahinterstecken sollte, wäre das noch beeindruckender.“

Selenskyj bearbeitet den Westen nach allen Regeln der Kunst

Auch die deutsche Osteuropa-Expertin Marieluise Beck würdigte Selenskyj in einer ARD-Doku: Sein Auftreten wirke auf sie „absolut authentisch“, erklärte Beck. Klar ist mittlerweile: Russland dürfte den ukrainischen Widerstand unterschätzt haben - und Selenskyj einen Anteil am ungebrochenen Widerstand haben. Rhetorische Fähigkeiten zeigte der frühere Sitcom-Präsident auch in Videoansprachen in den Parlamenten aller Herren Länder. Den Bundestag packte Selenskyj bei der historischen Ehre, den US-Kongress sprach er als möglichen „Anführer der Welt“ an, vor der israelischen Knesset zog er Vergleiche zu den Verbrechen Nazi-Deutschlands. Die Sanktionen und Hilfen der Weltgemeinschaft erhöhten sich - wenngleich die oft geforderte Flugverbotszone wohl ein gefährliches No-Go bleibt.

Die Wandlung hatte sich gleichwohl angedeutet. Schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar hagelte es einige Respektsbekundungen. US-Außenminister Antony Blinken würdigte den ukrainischen Präsidenten für seine besonnene Reaktion auf die russische Drohkulisse. Und tatsächlich tritt Selenskyj in der angespannten Lage jedenfalls betont unaggressiv auf. Die Ukraine werde keinesfalls den „ersten Schritt“ machen, versicherte er auch in München, wie im Video von BR24 zu sehen. Selenskyj erhob aber auch Forderungen: Sein Land sei Europas „Schutzschild“ gegen Russland. Es verdiene mehr internationale Unterstützung, betonte er.

Selenskyj: Ukraine nimmt Kampf gegen Oligarchen-Macht auf - doch es gibt Zweifel am Vorgehen

Selenskyjs Präsidentschaft erschöpft sich freilich nicht im Ukraine-Konflikt. Auch der Kampf gegen die Macht der Oligarchen gehört zu den erklärten Zielen Selenskyjs. Ein im September 2021 verabschiedetes Gesetz soll den Einfluss der Reichen auf Parteien und Politik und deren Zugriff bei Privatisierungen ausbremsen. Doch schwarz und weiß, richtig und falsch gibt es nur im TV - die Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments warnte vor Verfassungswidrigkeit der Pläne.

Argwohn erregte unter anderem, dass der von Selenskyj selbst zusammengestellte Nationale Rat für Sicherheit und Verteidigung die Betroffenen bestimmt. Laut einem Bericht der ARD hatte das Gremium zuvor auch oppositionelle Sender und Portale blockiert. Wie so oft in der Ukraine geht es dabei zumindest auch um die Frage „Russland oder Ukraine“. Seit Januar müssen alle überregionalen Zeitungen und Zeitschriften in ukrainischer Sprache erscheinen. Beschlossen hatte dieses zweitere Gesetz gleichwohl noch Vorgänger Poroschenko.

Wie turbulent oder auch hochgefährlich das politische Leben schon vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine sein konnte, zeigte ein Vorfall am Rande der Beschlussfassung des Oligarchen-Gesetzes. Ein Auto des Selenskyj-Beraters Serhiy Schefir wurde beschossen, der Fahrer schwer verletzt.

„Putin ist zurückgetreten!“

Hier schließt scheint sich dann auch wieder der Kreis zu Selenskyjs Sprungbrett in die große Politik zu schließen, der Serie „Diener des Volkes“. Dort ziehen gesichtslose Schwerreiche die Strippen im Hintergrund. Der brave Lehrer Holoborodko findet dennoch immer wieder einen Ausweg. Ob es auch in der Realität so kommt, es bleibt abzuwarten - und ob Selenskyj gleichermaßen über moralische Zweifel erhaben, sei dahingestellt.

Der größte geheime Wunsch Selenskyjs könnte es so oder so sein, einmal jenen Satz zu rufen, den Sitcom-Präsident Holoborodko ins Rund des ukrainischen Parlaments brüllt, um die Aufmerksamkeit eines Pulk aufeinander einprügelnder Abgeordneter zu erhalten: „Putin ist zurückgetreten!“, schreit er. In der Serien-Szene kehrt in diesem Moment wohltuende Ruhe ein.

„Diener des Volkes“ ist unterdessen in den Kriegswirren zu einem internationalen Kassenschlager geworden. (fn mit Material von AFP)

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