Meine persönliche Tour de France

Die 100. Tour de France startet in Porto-Vecchio auf Korsika. 3479 Kilometer werden die Teilnehmer radeln, bis sie am 21. Juli in Paris ankommen. Thomas Bauer aus Tutzing...
...radelte in sieben Wochen seine eigene Version der Tour de France: einmal rund um Frankreich, 4000 Kilometer, durch 15 Regionen. Die Bilanz: über 50 verzehrte Crêpes und eine schwimmende Insel, die glücklich macht. Wie alles begann und wie es endete:
Eine Handvoll Touristen steht am Ufer der Hafeneinfahrt von La Rochelle. Mal richten sie ihre Fotoapparate auf ein Fischerboot, mal auf die Altstadtkulisse. Als ich an ihnen vorbeifahre, zeigen sie mit dem Finger auf mich. Oder meinen sie mein dreieinhalb Meter langes, quietschgelbes Postfahrrad, an das sich ein einrädriger Anhänger anschließt? Der trägt, in einem ebenfalls gelben Seesack verstaut, meinen Rucksack, fünfundvierzig Radwanderkarten, eine Tagesration von vier Litern Wasser und eine unvernünftige Menge Schokoladenkekse. Ausrüstung für meine ganz persönliche Tour de France.
Warmlaufen am Atlantik
Die ersten anderthalb Wochen entlang der französischen Atlantikküste südwärts sind eine Art Aufwärmübung für das, was mich in den Pyrenäen erwartet. Dort legt mir die Strecke täglich neue Anstiege in den Weg. Mein Wasserverbrauch steigt auf sieben Liter pro Tag. Das T-Shirt klebt wie eine zweite Haut am Körper.
Traumlandschaften tief im Süden
Im Baskenland presst mich die Sonne aus wie eine reife Orange. Von den Bergspitzen der Pyrenäen blinken Schneefelder Morsezeichen herab. Darüber sind Wolken fein wie Zuckerwatte in den Himmel gestreut. Kirchturmspitzen lugen aus Talmulden, in denen sich reizende Dörfchen verstecken. Wie Wächter haben sich Bussarde und Falken postiert. Ich kann meinen Blick kaum von der Landschaft lösen.
Wiedersehen mit einer alten Liebe
Kurz vor Oloron-Sainte-Marie im Département Pyrénées-Atlantiques stürzt die Straße der Stadt entgegen und katapultiert mich direkt vor eine Herberge. Im Restaurant treffe ich auf eine alte Liebe! Als wir das erste Mal in einer bretonischen Küstenkneipe aufeinandertrafen fand ich sie zuerst – ich war ja so jung! – einfach nur süß. Dann aber offenbarte sie mir ihr wahres Wesen und stürzte mich in eine lang anhaltende Sehnsucht, die mich, wenn ich ehrlich bin, bis heute nicht losgelassen hat. Île flottante, treibende Insel, nennt sich die Köstlichkeit, von der hier die Rede ist. Ich war sechseinhalb, und der bretonische Kellner wusste nicht, was er auslöste, als er einen tiefen Teller mit Vanillesoße vor mich stellte, aus dem ein kleiner Berg aus geschlagenem Eiweiß und reichlich Zucker ragte. Langsam schiebe ich mir wie damals die perfekte Mischung in den Mund, genieße mit geschlossenen Augen. Unaufgefordert stellt der Kellner eine zweite Portion „schwimmende Insel“ auf den Tisch.
Kulinarische und andere Katastrophen
Leider sind in Frankreich nicht alle Mahlzeiten ein kulinarischer Hochgenuss. Zum Frühstück reicht man mir morgens meist nur zwei Scheiben Toastbrot, ein Flugzeugpäckchen Butter und einen Klecks

Marmelade zu einem wässrigen Kaffee. Dabei hätte ich zu dieser Tageszeit eine Energiezufuhr dringend nötig! Sieben Wochen lang, 4000 Kilometer weit bin ich insgesamt im vielgepriesenen Land der Gourmets unterwegs und nicht immer fühle ich mich auf dieser Reise wie Gott in Frankreich. In der Normandie trifft es mich am schlimmsten. Nach Marseille, Lyon, Strasbourg und der Champagne bin ich schon auf dem Rückweg zum Ausgangspunkt. Auf nasser Asphaltstraße überholen mich Lastwagen so eng, dass mein linker Ellbogen ihre rechte Wand entlangstreift. Fabrikanlagen verpesten die Luft, Güterzüge auf den parallel verlaufenden Schienen schreien in jeder Kurve auf. Und dann die Katastrophe: Ich reiße vor Schreck den Lenker meines Rads nach rechts. Noch während ich über den Bordstein rumple, fällt mein Blick auf die Glasscherben. Gleichzeitig weiß ich, dass es bereits zu spät zum Ausweichen ist. Mit allen drei Rädern fahre ich direkt in den Scherbenhaufen. Ich höre ein Knirschen unter mir und sofort darauf ein lautes „Pfffft“, einer Lokomotive gleich. Was bleibt mir übrig, als mein Postrad anschließend durch das Industriegebiet zu schieben – zurück in die Innenstadt von Rouen, auf der Suche nach einer Reparaturwerkstatt.
Zurück auf Anfang
Ähnlich wie in Rouen ist es mir auf meiner Tour de France oft ergangen. Aber ich wollte es ja auch nicht anders. Mittags nicht wissen, wo ich abends sein werde – ich gab den Dingen die Gelegenheit, mich zu überraschen. Ich ließ mich treiben, und das ist vermutlich eine sehr französische Art zu reisen.
Am letzten Tag meiner Frankreichumrundung fahre ich südwärts, bis eine Insel im Atlantik auftaucht, die über eine gigantische Brücke mit dem Festland verbunden ist. Ich fliege La Rochelle, dem Ausgangspunkt und Endziel meiner Tour de France, entgegen. Das Radwegsystem führt mich durch die lang gezogenen Grünanlagen zum alten Hafen, wo meine abenteuerliche Frankreichumrundung vor sieben Wochen begann. Ich habe acht Kilogramm Körpergewicht verloren, unzählige Bekanntschaften gemacht und eine Lebenseinstellung gefunden: Statt verbissen einem Ziel hinterherzujagen, sollte man den Weg dorthin genießen. Seit jeher gilt meine Sympathie den Lebenskünstlern. Ein neuer Lebenskünstler ist soeben mit einem Postrad um Frankreich herumgefahren.
Reise-Infos zur Radtour
REISEDAUERb Sieben Wochen.
ROUTE 4000 Kilometer, von der Hafenstadt La Rochelle die Atlantikküste südwärts bis Bayonne an der französisch-spanischen Grenze, den Nordrand der Pyrenäen entlang über Lourdes, Toulouse und Carcassonne bis nach Marseille an der französischen Riviera, dann in den Norden über Lyon bis nach Strasbourg, durch die Champagne nach Rouen und durch die Normandie und die Bretagne wieder zurück nach La Rochelle.
KOSTEN Insgesamt bei Übernachtung auf Campingplätzen und in einfachen Pensionen ca. 2500 Euro.
TIPPS UNTERWEGS
Palais Idéal: 32 Jahre baute Briefträger Ferdinand Cheval an einem Palast, indem er jeden Arbeitstag einen besonderen Stein, einen Kiesel, eine Muschel oder Ähnliches mitnahm. Sein originelles und eigensinniges Bauwerk in Hauterives bei Lyon steht inzwischen unter Denkmalschutz.
Jugendherberge Cancale im gleichnamigen bretonischen Ort mit Blick über eine reizende Bucht und einen Teil des Atlantiks bis zum Wahrzeichen Nordfrankreichs, dem Mont-Saint-Michel.
Sault: Zauberhaftes Dörfchen in der Provence fernab der gängigen Reiserouten. Vom Dorfplatz auf 800 Metern Höhe blickt man weit hinab in ein Tal voller Lavendel bis zum Mont Ventoux.
BLOSS NICHT! In Strandnähe essen gehen: Bei touristisch erschlossenen Küstenstädten ist ein Restaurantbesuch umso teurer, je näher am Strand man is(s)t. Oft gibt es eine Querstraße weiter dasselbe Menü für fast die Hälfte des Preises.