Aktualisiert:
Er spielte bei den Löwen Schicksal
"Ich konnte nachts nicht mehr schlafen"
München - Ex-Referee Michael Malbranc spielte vor 16 Jahren bei einem Löwen-Spiel Schicksal – trotzdem ist er gegen moderne Hilfsmittel: das Interview.
Zuletzt dämpfte DFB-Vize Rainer Koch die Hoffenheimer Hoffnungen auf ein Wiederholungsspiel. Der Funktionär aus Poing verwies dabei auf einen Präzedenzfall vor 16 Jahren, auf das Spiel zwischen dem TSV 1860 und dem Karlsruher SC am 5. August 1997. Damals führten die Löwen 2:1, als der Schiedsrichter ein Foul des Münchners Abedi Pelé pfiff, bevor eine gute halbe Sekunde später KSC-Stürmer Sean Dundee den Ball ins Tor schoss. Das Tor wurde gegeben, das Spiel endete 2:2.
Das DFB-Sportgericht entschied damals auf ein Wiederholungsspiel, die FIFA jedoch kassierte das Urteil und ließ das Spiel mit 2:2 gewertet. Begründung: Es habe sich um eine Tatsachenentscheidung gehandelt. Unsere Zeitung sprach mit Michael Malbranc (60), dem Schiedsrichter jener denkwürdigen Partie, der nach dieser verhängnisvollen Entscheidung seine Karriere beendete und heute neben seiner Tätigkeit als Schiedsrichterbeobachter auch als Ausbilder für Nachwuchsreferees und als Geschäftsführer eines Hamburger Sporthauses beschäftigt ist.
Malbranc: Habe ich. Live im Fernsehen. Und als der Kießling daneben schoss und Felix Brych auf Tor entschied, fühlte ich mich zurückversetzt an jenen August-Tag im Münchner Olympiastadion. Man möchte so etwas nicht erleben als Schiedsrichter.
Malbranc: Ja. Der Ball war bei meinem Pfiff noch ein, zwei Meter vor der Linie. Man hat das damals im Fernsehen rauf und runter gezeigt, vor und zurückgespult. Sie haben damals belegt, dass 0,6 Sekunden vergingen zwischen meinem Pfiff und dem Überschreitens der Torlinie durch den Ball. Ich war mir damals allerdings so sicher, nicht vorher gepfiffen zu haben, sondern erst als der Ball hinter der Linie war. Darum entschied ich ja auf Tor.
Malbranc: Nein. Natürlich habe ich danach gesehen, dass meine Tatsachenentscheidung eine falsche war. Aber in dem Moment hatte ich keine Zweifel, nein. Danach ging es dann ja bei der Frage nach einem Wiederholungsspiel durch alle Instanzen. Ich sagte dabei immer das, wovon ich auch überzeugt war, dass es aus meiner Sicht damals ein reguläres Tor war. Bis die FIFA wieder alles über den Haufen geworfen hat. Das war im Jahr vor der WM, ich kann mich noch erinnern, dass dem DFB damals sogar der Ausschluss von der WM 1998 in Frankreich angedroht wurde, sollte man ein Wiederholungsspiel ansetzen.
Malbranc: Nein.
Malbranc: Auch nicht. Auch wenn es bitter ist und die Menschen noch lange beschäftigen wird, es ist eine Tatsachenentscheidung. 2003 gab es eine ähnliche Szene. Hannover gegen Rostock, Schiedsrichter Steinborn, Spielstand 1:1. Nach einer Ecke gab es einen Pfiff, dann köpfte Idrissou ins Tor. Große Verwirrung, Aufregung, Proteste. Endstand 3:1 Hannover. Am Ende blieb auch hier die Wertung des Spiels so stehen.
Malbranc: Ein interessanter Vorschlag. Aber ob das durchkommt bei den Herren in Zürich, wage ich zu bezweifeln
Malbranc: Man sollte sich nicht auf Kießling stürzen. Der war selbst überfordert damit. Der hat selbst nicht mehr an das geglaubt, was er gesehen hat. Er hat ja gesagt, dass er Zweifel hatte. Das ist noch was anderes als 1998, Schalke gegen Köln, sieben Spieltage vor Saisonende. Schalkes Oliver Held wehrte bei 0:0 kurz vor Abpfiff einen Schuss der Kölner mit der Hand auf der Linie ab. Auf Nachfrage von Schiedsrichter Kemmling sagte Held, es sei kein Hand gewesen. Und was war? Gab deswegen auch kein Wiederholungsspiel, obwohl die Kölner am Ende abstiegen und mit einem Sieg auf Schalke in der Liga geblieben wären.
Malbranc: Worüber ich mich heute im Nachhinein bei mir selbst ärgere, dass ich vielleicht damals nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt habe, die mir zur Verfügung standen. Ich hätte den Linienrichter fragen können, wobei der auch gleich zur Mitte lief, das spielte auch eine Rolle, warum ich auf Tor entschieden habe. Natürlich gab es damals noch nicht die Möglichkeiten wie heute, keinen Funkverkehr zum Assistenten, keinen vierten Mann aus der Torauslinie. Und die Assistenten zu befragen, war damals verpönt.
Malbranc: Es ist eine schwierige Situation für den Schiedsrichter, wo man auch nicht weiß, was richtig und falsch ist und intuitiv nach seiner Wahrnehmung entscheidet. Brychs Sicherheit, dass es ein Tor war, überwog, es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Dazu zählt auch, dass der zweifelnde Kießling zu ihm kam. Wären die eigenen Zweifel im Vordergrund, könnte man sich alle Zeit der Welt nehmen und alle denkbaren Entscheidungsträger ins Boot holen, bevor man wieder anpfeift. Denn bei Anpfiff ist nichts mehr zu reparieren. Erinnern Sie sich an die Kopfnuss von Zidane gegen Materazzi im WM-Finale 2006? Da hat es auch sehr lange gedauert, bis der argentinische Schiedsrichter Elizondo seine Entscheidung getroffen hatte.
Malbranc: Oder der vierte Mann hat es auf dem Platz gesehen. Entscheidend ist, dass sich die Schiedsrichter wirklich rückversichern und alles ausschöpfen.
Malbranc: Nein, lassen wir das mit dem Videobeweis. Fußball ist ein so schöner Sport, einfach und unkompliziert. Ein Ball, zwei Mannschaften, zwei Tore. Dass der Sport so schnell und dynamisch ist, liegt auch daran, dass es eben keinen Videobeweis gibt. Stellen Sie sich nur vor, mit einem Videobeweis wäre doch alle fünf Minuten Unterbrechung. Wann ist eine Spiel entscheidende Szene, wann nicht? Bei Handspiel, Foul, Abseits? Oder erst wie bei der WM 2010, Deutschland gegen England, als der Schuss von Lampard an die Unterkante der Latte ging und klar hinter der Linie war, der Schiedsrichter aber weiter spielen ließ?. Lassen wir den Videobeweis ganz weg, dann ersparen wir uns solche Diskussionen, wann er in Anspruch genommen werden darf.
Malbranc: Für mich lebt Fußball auch von solchen Entscheidungen. Das ist Teil des Sports, dass das hin und wieder passiert.
Malbranc: Sicher. Aber noch mal: Wo fange ich an, wo höre ich auf?
Malbranc: Dabei hatte mir der damalige Beobachter Manfred Amerell sogar eine gute Note bescheinigt. Trotzdem: Für mich war das eine schwere Zeit, ich konnte nachts nicht mehr schlafen. Aber wenn Sie sagen, es hat mein Leben verändert, nun ja. Für mich wäre es in jedem Fall die letzte Saison gewesen.
Malbranc: Nein, ich hoffe es nicht und glaube es auch nicht. Er ist ein exzellenter Schiedsrichter. Es wird ihn sicher noch lange beschäftigen, vergessen wird er diesen Moment sowieso nie. Ich bin guter Dinge, dass er darüber hinweg kommt. Es ist eben nur diese Situation, in der du dir vorkommst wie der einsamste Mensch auf der Welt. Das ist eine ganz dunkle Sekunde in deinem Leben. Aber das gehört auch zum Fußball.
Das Gespräch führte Florian Kinast
Wembley, Helmer, Kießling: Diese Tor-Skandale sorgten für Schlagzeilen
Wembley, Helmer, Kießling: Diese Tor-Skandale sorgten für Schlagzeilen



