Lesser: Ich finde: Wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören. Für mich passt das jetzt absolut. Ich stehe zu meiner Entscheidung. Ich habe sie auch zum richtigen Zeitpunkt bekannt gegeben.
Gab es einen Auslöser?
Lesser: Nein. Der Entschluss fiel schon letzten Sommer. Und das nach reiflicher Überlegung. Im Grunde ging ein schleichender Prozess voraus, in dem ich gemerkt habe, dass mir meine Familie immer wichtiger wird. Und ich hatte auch gemerkt, dass mir im Training die Motivation immer wieder mal fehlte. Da dachte ich mir: Wenn ich nicht mehr richtig Lust auf Biathlon habe, dann kann ich auch zu Hause bleiben.
Ihre letzte Saison stand für den Sport insgesamt nicht gerade unter einem glücklichen Stern. Sie wurde überschattet von der Pandemie, den umstrittenen Spielen in Peking und dann ganz besonders vom Krieg in der Ukraine...
Lesser: Klar, Covid-19 und die damit verbundenen Einschränkungen machten keinen Spaß. Trotzdem war mein Ziel, in Peking meine dritten Spiele mitzumachen. Der Krieg in der Ukraine wirft nun natürlich auch seine Schatten weit hinein in den Biathlonsport. Ich höre sicher in dunklen Zeiten auf – aber ich werde auf meine Karriere sicher nicht dunkel zurückblicken.
Wie schwer fällt es denn allgemein, vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine noch Leistungssport zu betreiben? Kann man das im Wettkampf wirklich ausblenden und sich ganz auf den Tunnelblick konzentrieren?
Lesser: Das kann und muss man. Wenn ein Athlet sich entscheidet, im Weltcup zu starten, dann muss er in der Lage sein, seinen Job von seinen persönlichen Befindlichkeiten zu trennen. Vom Startschuss an bis zur Ziellinie sollte der Fokus hundertprozentig auf dem Sport liegen und nicht auf dem, was aktuell in der Welt passiert. Da muss man professionell bleiben. Nach dem Wettkampf kann man sich dann informieren oder überlegen, wie man vielleicht helfen könnte.
Wie ergeht es Ihnen in dieser Hinsicht zwischen den Wettkämpfen? Welche Gedanken kommen Ihnen da in den Sinn?
Lesser: Es macht mich traurig und nimmt mich auch persönlich mit. Die Vorstellung, in den Krieg ziehen zu müssen, ist selbst für mich als Berufssoldat schrecklich. Das kann und will ich mir nicht ausmalen. Deswegen habe ich unglaublichen Respekt vor den ukrainischen Biathleten. Vor drei Wochen haben wir noch bei den Olympischen Spielen um Frieden in der Welt und Medaillen gekämpft. Und jetzt sind die ukrainischen Sportler zu Hause, wo Krieg herrscht, verteidigen ihre Familien gegen Luftangriffe und Soldaten. Da war auch die Meldung von dem jungen ukrainischen Ex-Biathleten, der im Krieg gefallen ist. Das geht mir alles sehr nahe.
Die ukrainischen Biathleten Julija Dschyma und Dmytro Pitruschnij sind als Soldaten mittlerweile an der Front. Kennen Sie die beiden persönlich?
Lesser: Natürlich. Man hat sich ja beim Wettkampf gesehen, traf sich auch mal am Rande des Sommertrainings, hat das eine oder andere Wort gewechselt. Das sind zwei supersympathische Menschen. Und wie gesagt: Ich möchte es mir gar nicht ausmalen, wie es den beiden jetzt im Krieg ergeht oder dass der Ukraine-Konflikt so weit geht, dass sie vielleicht nicht mehr zurückkommen können.
Hat man in der Biathlon-Szene inzwischen von den beiden etwas gehört?
Lesser: Mit Julija Dschyma versuchten einige Frauen aus dem deutschen Team Kontakt aufzunehmen. Aber sie haben noch keine Rückmeldung bekommen. Das Medium Instagram ist nicht das schnellste, um sich auszutauschen. Mit Dmytro hatte ich Kontakt.
Was erzählt er?
Lesser: Es geht ihm soweit gut. Er trägt Uniform, ist aber noch relativ weit weg vom eigentlichen Kriegsgeschehen, das aber täglich näher kommt.
Die Biathleten aus Russland und Weißrussland sind inzwischen von allen Wettkämpfen ausgeschlossen worden. Wie sehen Sie diese Entscheidung?
Lesser: Grundsätzlich möchte ich dazu sagen: In der Vergangenheit gab es immer einen respektvollen Umgang zwischen dem russischen und ukrainischen Team. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass im russischen Team überhaupt Athleten sind, die den Krieg befürworten. Ich fand es auch richtig, dass den russischen Biathleten zunächst angeboten worden war, ohne Nationalflagge und Nationaltrikot als neutrale Sportler zu starten. Der russische Biathlonverband hat das aber sofort als inakzeptabel abgelehnt. Stattdessen wurde die Opferkarte gespielt und behauptet, da wäre der böse Westen wieder einmal gegen Russland. Am Ende hat sich Russland selbst disqualifiziert. Und es war schließlich auch richtig, dass fast alle internationalen Sportverbände die Russen von den Wettkämpfen ausgeschlossen haben. Man muss da auch die andere Seite betrachten: Die Ukrainer können es sich nicht aussuchen, die können gar nicht teilnehmen. Für die gibt es kein Ja oder Nein. Sie sitzen im Luftschutzbunker oder verteidigen ihr Land.
Die große Frage ist, wie der Sport wieder zusammenkommen will? Russland ist gerade dabei, die Ukraine in Schutt und Asche zu legen. Kann man da eines Tages als Sportler tatsächlich so weitermachen wie zuvor?
Lesser: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das können nur Ukrainer. Nur sie wissen, wie es ist, wieder den Russen gegenüberzutreten.
Dem Sport wird ja die Kraft zugeschrieben, Brücken zu bauen. Aber die Brücken zwischen der Ukraine und Russland sind nun komplett zerstört . . .
Lesser: Das ist wohl wahr. Und wenn die Russen zurückkehren in die Normalität, dann wird es sicher sehr schwierig werden.
Zurück zu Ihnen und Ihren Zukunftsplänen. Sie haben bereits angekündigt, Trainer werden zu wollen. Der Biathlonsport scheint Sie nicht loszulassen. Gibt es dafür eine Erklärung?
Lesser: Ich habe nichts anderes gelernt. (lacht). Im Ernst: Das Schöne an diesem Sport ist seine Vielfältigkeit. Vom Konditionellen bis zum Präzisionsschießen – und zugleich muss man im Kopf bereit sein für Erfolg oder Misserfolg. Die Komplexität macht es so spannend. Ich selbst habe in meinem Sportlerleben viel gelernt, viel Erfahrung gesammelt. Mit macht es Spaß, die guten und die schlechten Seiten bei Biathleten zu finden, nach Lösungen zu suchen. Ich glaube auch, dass ich ein ganz guter Trainer werden könnte.
Man vermisst Sie ja jetzt schon nicht nur als hervorragenden Sportler, sondern auch als kritischen Geist, als sehr authentisch wirkenden, glaubwürdigen Charakter. Macht Sie das stolz?
Lesser: Nun, es ist ja ein gefährliches Unterfangen, kritisch zu sein. Wenn man erfolgreich ist, kann man sich viel erlauben, viel sagen gegenüber den Medien. Wenn der Erfolg ausbleibt, dann wir man schnell in eine andere Ecke geschoben, gilt als der Unzufriedene, der sich besser auf den Sport konzentrieren sollte. Aber klar, es freut mich natürlich, wenn mein Auftreten positiv bei den Leuten ankommt. Mir ist es auch wichtig, dass ich jungen Sportlern Werte mitgeben kann. Wenn ich da Vorbild sein kann, dann habe ich viel erreicht. Insofern kann man schon ein bisschen von Stolz sprechen. Auch wenn ich mich manchmal wundere: Ich mache doch eigentlich nur, was ich für richtig halte. Dass das so gut ankommt, ist natürlich schön.