Delta lässt Corona-Zahlen in Großbritannien „explodieren“ - drei Werte samt Lockerungen machen große Sorgen
Die Johnson-Regierung argumentiert, die Verbindung zwischen Infektionen und Todesfällen sei dank der Impfung erheblich geschwächt. Kritiker beruhigt das nicht.
London - Findet Großbritannien gerade die Mitte zwischen Übervorsicht und Leichtsinn? Oder wagt Boris Johnson mit den Komplett-Lockerungen ein „skrupelloses Experiment“, wie aktuell mehr als 100 Experten in einem offenen Brief behaupten? Das Land, in dem die Delta-Mutation vorherrscht und am 19. Juli die Corona-Regeln fallen sollen, steht im Fokus der Aufmerksamkeit.
Denn die jüngsten Zahlen sind nicht ermutigend:
- 7-Tage-Inzidenz: 256,2 (Stand: 6. Juli)*
- Neuinfektionen binnen 24 Stunden: 32.538 (Stand: 7. Juli)*
- Todesfälle an oder mit Covid-19: 33 (Stand: 7. Juli)*
- Anteil der durchgeimpften Menschen: 64,6 Prozent (Stand: 6. Juli)*
- *Quelle: coronavirus.data.gov.uk
Streit um Lockerungen und Delta-Mutante: „Können sie auch Johnson-Variante nennen“
Bei den Neuinfektionen und Todesfällen bedeutet das einen Anstieg zur Vorwoche von jeweils mehr als 40 Prozent. Regierungschef Johnson erhält für seine Strategie daher scharfe Kritik. Labour-Parteichef Keir Starmer wetterte am Mittwoch im britischen Parlament: „Machen wir uns klar, warum die Infektionsraten so hoch sind: Weil der Premierminister die Delta-Variante - wir können sie auch Johnson-Variante nennen - ins Land gelassen hat.“
Ursprünglich waren die Lockerungen schon für den 21. Juni geplant. Johnson hat in Gesundheitsfragen allerdings nur für England das Sagen, die Landesteile Schottland, Nordirland und Wales entscheiden eigenständig.
Corona in Großbritannien: EM lässt laut Studie Fallzahlen steigen
Eine aktuelle Studie vermutet überdies einen Zusammenhang mit gemeinsamen Schauen der Fußball-Europameisterschaft in dem Land. In einem Preprint des Imperial College London heißt es zudem, dass derzeit eine „erhebliche dritte Infektionswelle“ das Land treffe.
Demnach hat sich das Infektionsgeschehen im Vergleich zur vorigen Erhebung vor einem Monat vervierfacht. Infektionen seien in allen Altersgruppen unter 75 Jahren deutlich gestiegen, vor allem aber bei Kindern und Jugendlichen. Auch bei Menschen, die beide Impfungen bekommen haben, habe sich die Zahl der Corona-Fälle vervierfacht.
„Obwohl die Impfstoffe einen guten Schutz vor Infektionen und schweren Krankheiten bieten, besteht für geimpfte Menschen immer noch das Risiko, an dem Virus zu erkranken und andere zu infizieren“, sagte Riley. Deshalb sei es wichtig, dass so viele Menschen wie möglich beide Dosen erhielten.
Impfstrategie der Johnson-Regierung: Zweitimpfung bei Corona hinauszögern
Im Vergleich zu den Todeszahlen vor einem Vierteljahr hat sich die Corona-Lage aber anscheinend verbessert: Anfang April starben in Großbritannien 238 Infizierte innerhalb einer Woche. Im Januar verzeichneten die Behörden in diesem Zeitraum sogar noch bis zu 8700 Tote.
Damals trat in England die zweite Phase der Lockerungen in Kraft, Außenbereiche von Pubs und Restaurants sowie Geschäfte, Fitnessstudios und Friseure durften wieder öffnen. Damals waren bereits gut 60 Prozent der Briten mindestens einmal geimpft. Die Zweitimpfung wurde auf Regierungswunsch weiter nach hinten verschoben, um möglichst viele Menschen erstimpfen zu können. Kritiker sehen das als Grund für die starke Delta-Ausbreitung in dem Land.
Corona-Selbstisolation in Großbritannien: Klinik-Personal ist verärgert
Und somit sind die Probleme noch lange nicht vorbei. Der britische Sender BBC hat jetzt vorgerechnet, dass sich von jetzt bis zum 16. August noch mehr als 4,5 Millionen Briten in Selfisolation begeben würden. Ab diesem Tag sollen sich Durchgeimpfte nicht mehr in Quarantäne begeben müssen, wenn sie Kontakt zu Infizierten hatten.
Beim Gesundheitspersonal stoßen die Lockerungen nicht nur auf Begeisterung. Der NHS ist das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien und Nordirland. Deren Vorsitzender Chris Hopson sagte der BBC, dass die Selbstisolationspflicht für die Mitarbeiter zwar eine „ständige Quelle des Frusts“ gewesen sei. Nach dem 19. Juli könne der nun aber sogar steigen, denn nach seiner Ansicht müsse sich dann „sogar mehr NHS-Personal in Isolation begeben, da die Infektionsraten in die Höhe schnellen werden. Das besorgt uns aktuell wirklich stark“.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Johnson-Regierung am Mittwoch gewarnt. Deren Notfalldirektor Michael Ryan sagte: „Ich würde bei der vollständigen Aufhebung der Hygiene- und Abstandsregeln zu äußerster Vorsicht raten, denn das wird Konsequenzen haben.“ (frs mit Material von dpa und AFP)