George Orwells „1984“ schon Realität? Kreml-Sprecherin wütet über westliche „Fantasiewelt“

Kreml-Sprecherin Sacharowa behauptet bei einer Veranstaltung, im Westen würde es zugehen wie bei George Orwells Dystopie „1984“. Es ist das Gegenteil des hiesigen Narratives. Wer hat Recht?
Moskau/München - Der Roman gilt als eines der wichtigsten literarischen Werke in Sachen Zukunftsvision: „1984“ des britischen Autors George Orwell (1903 - 1950). Bei einer Veranstaltung hat Kreml-Sprecherin Maria Sacharowa zu einer brisanten Frage eines Anwesenden Stellung genommen: Wie reagiert man als russischer Staatsbürger, wenn Verwandte oder Bekannte im Westen Russland mit der dystopischen Welt aus Orwells Roman vergleichen?
Die russische Diplomatin, die sich regelmäßig zu den Geschehnissen im Ukraine-Krieg äußert, antwortete emotional, um auf die angeblichen Verfehlungen westlicher, demokratischer Länder einzugehen: „George Orwell hat nicht über die UdSSR geschrieben. Der Mann schrieb über die Gesellschaft, in der er lebte und über den Zusammenbruch der Ideen des Liberalismus.“ Dazu ließ Sacharowa wissen, Russen sollten ihren Bekannten Folgendes mit auf den Weg geben: „Ihr im Westen lebt in einer Fantasiewelt, in der ein Mensch einfach so gecancelt werden kann.“
Roman „1984“ von George Orwell: Darum geht es im Werk des Schriftstellers
Der im Jahr 1949 erschienene, dystopische Klassiker „1984“ beschreibt eine von einer autoritären Staatsmacht mit perfekter Überwachung durchorganisierte, totalitäre Gesellschaft. Bekannt wurde der daraus stammende Slogan „Big brother is watching you“ („Der Große Bruder beobachtet dich“). Im Roman geht es zudem um Propaganda, durch welche die Bevölkerung hörig gemacht wird und die gerne auch von innenpolitischen Problemen ablenkt - zum Beispiel einer maroden Infrastruktur und mangelhafter Versorgung.
Teile dieser Beschreibung passen auf politische Strukturen in Ländern wie Russland, China oder Nordkorea. Das Narrativ aus Russland zeigt das entgegengesetzte Bild. Im Hinblick auf Infrastruktur und Versorgung (Stichwort Gesundheitssystem) gibt es allerdings auch in Ländern wie Deutschland Probleme. Im Roman von George Orwell sind zudem die Presse- und Wissenschaftsfreiheit nicht existent, weil strikt dem Regierungskurs gefolgt wird und gegen Andersdenkende gehetzt. In der Dystopie von Orwell führen die Menschen ein spärliches Leben ohne zu begreifen, dass es an grundlegendsten Dingen fehlt und wer aufbegehrt, wird durch die „Gedankenpolizei“ gefangen genommen und bestraft.
Als Vorreiter der „totalen Überwachung“ gilt übrigens China. Das Reich der Mitte führte ein Sozialkredit-System ein, das vielen Menschen Angst macht - jedoch auch als Zukunftsszenario für unsere Gesellschaft taugt:
„1984“: George Orwells Roman erobert elektronische Bestsellerlisten in Russland
Vor wenigen Tagen wurde nun bekannt, dass der Roman in Russland den beliebtesten Belletristik-Download des Jahres 2022 auf der Plattform des Online-Buchhändlers LitRes darstellt, dazu der zweitbeliebteste Download insgesamt, so die staatliche Nachrichtenagentur Tass. Denn auch in Russland werden die Menschen auf Kriegskurs gebracht.
Ein weiterer Punkt von „1984“ (auch „Nineteen Eighty-Four“), den Menschen rund um die Welt als düstere Prophezeiung sehen: Durch ein eigens dafür konzipiertes „Wahrheitsministerium“ wird die Geschichte verfälscht, nur in Teilen wiedergegeben und zielt jeweils auf einen passenden Feind der Regierung ab. In diesem System nehmen totalitäre Herrscher ihren Bürgern jegliche Entscheidungsfreiheit ab, auch um die Unterstützung für sinnlose Kriege aufrechtzuerhalten.
Die Propaganda dient als Gehirnwäsche, durch die Bürger eines Staates nicht mal mehr das glauben, was sie mit eigenen Augen sehen könnten oder was wissenschaftlich belegt ist – im Zweifel folgt man einfach der Regierungslinie, ohne Recht und Unrecht zu hinterfragen.

„1984“ von George Orwell: Vorbild war der Personenkult um Diktator Stalin
Beim Erscheinen von Orwells „1984“, war der Nationalsozialismus gerade besiegt, der „Kalte Krieg“ des Westens mit seinem einstigen Verbündeten Josef Stalin und dem von ihm geführten sowjetischen kommunistischen Block keimte. Bis zum Jahr 1988 war „1984“ in der Sowjetunion komplett verboten, 2022 erschien eine neue Ausgabe auf Russisch.
Übersetzerin Darya Tselovalnikova äußerte sich im Frühsommer ähnlich wie Maria Sacharowa: „Orwell hätte in seinen schlimmsten Albträumen nicht ahnen können, dass die Ära des ‚liberalen Totalitarismus‘ oder ‚totalitären Liberalismus‘ im Westen kommen würde und dass sich die Menschen – getrennte, ziemlich isolierte Individuen – wie eine wütende Herde verhalten.“ Auch wenn Russland die Entwicklung von Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder die USA meint: Vorbild für Orwells Idee vom „Großen Bruder“ war der Personenkult von Diktator Stalin, dessen Ideologie die Bevölkerung auf „Krieg bedeutet Frieden“ trimmte.
Viele Menschen sehen heute Parallelen in der Herrschaft von Präsident Wladimir Putin, der in zwei Jahrzehnten an der Macht die politische Opposition in Russland sowie kritische Medien nahezu ausgerottet habe. Die russische Invasion in der Ukraine führte zu neuen Gesetzen, die es u. a. zu einem Verbrechen machen, Informationen über den Ukraine-Krieg zu veröffentlichen, die im Widerspruch zu offiziellen Aussagen stehen. Statt der Bezeichnung „Krieg“ verwendet der Kreml jedoch weiterhin die Formulierung „militärische Operation“ im krisengebeutelten Nachbarland. (PF)