Schwedens Corona-Weg: König fällt vernichtendes Urteil - doch Experten werfen neue Fragen auf

Schwedens Corona-Strategie gilt in der Pandemie als heikler Sonderweg. Der König wirft seinem eigenen Land Versagen vor. Ein Problem lässt sich klar erkennen.
- Coronavirus-Pandemie: Die Zahl der Covid-19-Neuinfektionen ist in der Corona-Krise nach wie vor in Deutschland und anderen Ländern hoch.
- Schweden wählt in der Bewältigung der Corona-Pandemie einen Sonderweg. Dieser gilt als Gegenentwurf zur verbreiteten Lockdown-Strategie. Der König kritisiert das Covid-19-Krisenmanagement seines Landes nun scharf.
- Doch ein Vergleich widerlegt die Vorwürfe von Carl XVI. Gustaf, der mit 74 Jahren selbst der Corona-Risikogruppe angehört.
München/Stockholm - Die Nachricht brachte in den vergangenen Wochen einige Bewegung in die hitzigen Diskussionen über richtige Strategien in der Corona-Pandemie: Schweden verzeichnete die höchste November-Sterblichkeit seit der Spanischen Grippe 1918.
Schwedischer Sonderweg in der Corona-Pandemie: Verzicht auf Covid-19-Lockdowns und auf strenge Kontaktbeschränkungen
Kritiker, die den schwedischen Sonderweg in der Bewältigung der Covid-19-Krise skeptisch beäugen, sahen sich bestätigt. Das skandinavische Land mit seinen 10,3 Millionen Einwohnern hatte in der Pandemie bislang weitgehend auf Lockdowns des gesellschaftlichen Lebens und strikte Kontaktbeschränkungen verzichtet.
Im April waren wiederum die meisten Todesfälle auf Infektionen mit dem Erreger SARS-CoV-2 zurückzuführen. Und: Im ersten Halbjahr 2020 war Corona die dritthäufigste Todesursache, wie die Oberste Sozialbehörde des Landes mitteilte.
Schwedischer Sonderweg in der Corona-Pandemie: Scharfe Kritik von König Carl XVI. Gustaf
Ferner sind auch in Schweden die Corona-Fallzahlen im Dezember hoch. König Carl XVI. Gustaf erhob zuletzt scharfe Vorwürfe gegen sein eigenes Land: „Ich denke, wir haben versagt“, sagte der Monarch, das Staatsoberhaupt Schwedens.
Hat er Recht? Was spricht gegen seine These? Die Bild (hinter einer Bezahlschranke) hat sich jetzt ausführlich mit dem schwedischen Sonderweg auseinandergesetzt - und dazu unter anderem den Epidemiologen Jonas F. Ludvigsson vom Karolinska-Institut bei Stockholm interviewt.
Angesichts der Debatten um den richtigen Corona-Kurs auch in Deutschland ein brisantes Thema.

Schweden-Strategie gegen Corona falsch oder richtig? Erkenntnisse und Vergleiche
- Laut Bild starben im November 2020 77,9 Schweden auf 100.00 Einwohner. Im November 2010 starben demnach aber 79,2 Schweden auf 100.000 Einwohner.
- Nach Recherchen des preisgekrönten schwedischen Journalisten Emanuel Karlsten gab es zugleich Monate mit höheren Sterblichkeitsraten - während der Corona-Pandemie und davor. Im April 2020 starben 101,1 Menschen je 100.000 Einwohner. Im Dezember 2000 waren es sogar 110,8. Auch in absoluten Zahlen bot die Corona-Pandemie für Schweden kein Novum: Im Zeitraum von Dezember 1993 bis Januar 1994 seien rund 1.000 Menschen mehr gestorben als zur Corona-Hochphase im Zwei-Monats-Zeitraum April und Mai 2020. Höhere Zahlen habe es auch zu den Jahreswechseln 95/96 und 88/89 gegeben.
- Zugleich warnt Karlsten jedoch vor leichtfertigen Vergleichen, die mehrere Jahrzehnte übergreifen. Der frühere schwedische Chef-Bevölkerungsstatistiker Åke Nilsson etwa wies in einem Interview mit dem Journalisten darauf hin, dass die monatliche Sterblichkeit im Schnitt stetig geringer geworden sei - etwa aufgrund medizinischer Fortschritte und einem Wandel hin zu einem gesünderen Lebensstil.
- Dem Bericht der Bild zufolge werden in Schweden rund um Weihnachten im Verhältnis viel mehr Menschen auf Corona getestet als in Deutschland. Deswegen seien auch die Infektionszahlen vergleichsweise höher, heißt es in dem Bericht.
- Einen zusätzlichen Komplexitätsfaktor liefern nach Karlstens Recherchen auch die Begleitumstände der Pandemie: So könne in Schweden aufgrund eines milden Winters 19/20 mit wenigen Todesfällen eine größere Anzahl Tode durch Corona-Infektionen gefolgt sein - zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt im Frühjahr. Ebenso könnte das steigende Lebensalter vieler Einwohner hohe Todeszahlen - verglichen mit früheren Infektionswellen - begünstigt haben.
- Zugleich dürfte die auch in Schweden erfolgte Reaktion auf die Pandemie die Todeszahlen gedrückt haben, argumentiert Karlsten - was auf einen vergleichsweise großen Impact der Pandemie hindeuten könnte. Dazu zählt er eine groß angelegte Kampagne zu Hygienemaßnahmen, die die Infektion mit anderen Krankheiten gemindert haben dürfte, aber auch möglicherweise geringere Zahlen von Todesfällen durch Verkehrsunfälle oder stress-induzierte gesundheitliche Probleme. Karlsten nennt auch den „Krisenmodus“ der Kliniken als Mittel zur Senkung der Todeszahlen: „Hätte Schweden sich nicht dazu entschieden, wäre die Zahl der Todesfälle vermutlich höher ausgefallen“, es sei wichtig, „das Gesundheitssystem nicht zu überlasten“, betont er.
- Im Interview mit der Bild erklärt Professor Ludvigsson, dass eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus in Schweden nie ein erklärtes Ziel gewesen sei. Selbiges betonte auch Staatsepidemiologe Anders Tegnell immer wieder. Laut Ludvigsson war das erklärte Ziel, Covid-19-Risikogruppen und Ältere vor einer Infektion mit dem Erreger SARS-CoV-2 zu schützen. Ludvigsson weiter: „Wie viele andere Länder sind wir gescheitert, einige der älteren Menschen zu schützen.“
- Verschiedenen Berichten zufolge sind auch in Schweden vor allem alte Menschen mit Vorerkrankungen unter den Todesopfern. Wie zum Beispiel rbb24.de berichtet, waren Mitte Mai 90 Prozent der Corona-Toten über 70 Jahre alt.
- Viele Corona-Tote in Altersheimen: Die schwedische Gesundheitsbehörde habe nicht gewusst, „wie schlecht organisiert, wie ressourcenarm und unter welchen schlechten Arbeitsbedingungen“ in den Altersheimen und in der häuslichen Pflege gearbeitet werde, erklärte die schwedische Politikwissenschaftlerin Lisa Pelling nach einer Untersuchung für den skandinavischen Thinktank Arena Idé.
Schweden in der Coronavirus-Pandemie: Schutz von Covid-19-Risikogruppen ist gescheitert
Die Ergebnisse zusammengefasst lässt sich Folgendes, Stand Weihnachten 2020, festhalten:
- 1. Eine Herdenimmunität gegen Corona war nie das erklärte Ziel in Schweden.
- 2. Im Frühjahr starben so vergleichsweise viele Menschen an und mit Covid-19, weil die Altenheime und Pflegedienste mit dem Schutz der Corona-Risikogruppen auch mangels geeigneter Schutzkleidung völlig überfordert waren.
- 3. Schweden war offensichtlich nicht in der Lage, Alte und Corona-Risikogruppen ausreichend zu schützen.
- 4. Thesen von der höchsten Sterblichkeit seit 100 Jahren sind kritisch zu hinterfragen. Einerseits zeigen je nach Wahl der statistischen Parameter andere Zeiträume höhere relative und absolute Sterblichkeitszahlen - andererseits sind bei derartigen Vergleichen aber auch veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu beachten.
- 5. Antworten darauf, ob der schwedische Sonderweg gegen Corona gut oder sogar richtig war, wird erst die Zukunft liefern - im besten Fall. (pm/fn)