Evergrande-Krise: Das Risiko für die chinesische Wirtschaft ist noch viel größer als gedacht

Chinas Immobiliensektor ist heiß gelaufen, der Wohnungsbau boomte jahrzehntelang auf Pump. Doch inzwischen stehen überall Apartments leer. Jetzt beginnt das große Zittern.
München – Anleger und Wohnungskäufer des strauchelnden Immobilienkonzerns Evergrande warten weiter auf ihr Geld oder ihre Wohnungen. Nach dem Motto: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch die sich langsam vor aller Augen abspulende Krise öffnet den Blick auch auf ein tieferes Problem: Chinas* heißer Immobilienmarkt kühlt sich nach Jahren des Überangebots allmählich ab.
Das liegt zum einen an der Politik, die seit Jahren hohe Hürden für Spekulationskäufe und exzessive Kreditaufnahme setzt. Doch nicht nur das: Es gibt in manchen Orten ein geballtes Überangebot an Wohnungen, die niemand kauft. Es ist ein Problem, das vor allem abseits der Metropolen wie Peking, Shanghai oder Shenzhen auftaucht. Das Land ist weit, und es gibt hunderte Städte mit immer noch sechs- oder siebenstelligen Einwohnerzahlen, die weiter wachsen wollten und sich dabei übernommen haben – und die Entwicklerfirmen mit ihnen.
China: Riesige Investitionsruinen
In den letzten zehn Jahren gab es immer wieder Berichte über so genannte Geisterstädte: Auf dem Reißbrett entworfen, ohne den tatsächlichen Bedarf zu ermitteln. Manche dieser durchgeplanten Trabantenstädte wurden nie zu Ende gebaut. Dort reihen sich Rohbauten entlang der menschenleeren Straßen, nur einzelne Viertel sind bewohnt. Andere haben sich über die Jahre mit Leben gefüllt, wie etwa der Zhongdong New District im zentralchinesischen Zhengzhou oder die Binhai New Area in der Hafenstadt Tianjin.
Doch schon vor der Kernschmelze von Evergrande galten im ganzen Land zig Millionen Wohnungen als leerstehend. In den letzten Jahren ist das Problem nur noch schlimmer geworden. Der US-Fernsehsender CNN zitiert Mark Williams, Chefökonom für Asien bei Capital Economics mit der Schätzung, dass in China Wohntürme mit rund 30 Millionen unverkauften Apartments stehen, die 80 Millionen Menschen beherbergen könnten. Das entspräche fast der gesamten Bevölkerung Deutschlands. Klar ist: Wenn die Immobilienfirmen ihre Wohnungen nicht verkaufen, bleiben sie auf den Schulden sitzen, die sie für den Bau der Apartments aufnehmen mussten.
Darüberhinaus gebe es rund 100 Millionen Wohnungen für 260 Millionen Menschen, die zwar gekauft wurden, aber nicht bewohnt werden, schätzt Williams. Sie sind Spekulationsobjekte, gekauft in einer Wette auf immer weiter steigende Preise. Auch in Peking stehen fertige und gepflegte Wohnanlagen, in denen abends nur in wenigen Apartments Lichter brennen. Es ist eine gigantische Verschwendung von Wohnraum, der auf diese Weise künstlich verteuert wird.
China: Urbanisierung puschte rasanten Wohnungsbau
Jahrzehntelang waren Urbanisierung und Bauwirtschaft wichtige Katalysatoren für Chinas beispielloses Wachstum gewesen. 1978 lebten nur 18 Prozent der Bevölkerung in Städten; im letzten Jahr waren es 64 Prozent. Das Land hat mittlerweile mehr als zehn Megastädte mit über 10 Millionen Einwohnern. Mehr als ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt in den hunderten chinesischen Städten. Ohne einen rasanten Wohnungsbau wäre dieses hohe Urbanisierungstempo gar nicht möglich gewesen. Davon schienen zunächst alle Akteure zu profitieren.
Die Kommunen verdienten Geld durch Landverkäufe an Bauträger. Das war für manche der größte Verdienstposten ihres Haushalts, denn die unteren Verwaltungsebenen haben praktisch keine eigenen Steuereinnahmen. Kein Wunder also, dass sich Kommunen Hals über Kopf in das Geschäft mit dem Städtebau stürzten. Ähnlich verlockend war der Markt mit seinen rasant steigenden Preisen für die Immobilienentwickler. Der Sektor macht nach verschiedenen Schätzungen zwischen 25 und 30 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung aus – weit mehr als in anderen Ländern.
China: Kampf gegen die Überschuldung
Doch das Wachstum hatte einen Haken: Kommunen und Immobilienfirmen verschuldeten sich, um den Bauboom finanzieren zu können. Die Kommunen befeuern dieses schuldenfinanzierte Immobilienwachstum noch immer: So wurde der öffentlich gepuschte Bauboom zur wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Pandemie 2020 und 2021 nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg durch eine Rekordaufnahme von 3,75 Billionen Yuan (580 Milliarden US-Dollar) an Krediten der lokalen Regierungen finanziert.
Da hatte sich Peking angesichts von Immobilienblase, Kreditwachstum und Spekulation bereits entschieden, bei den Firmen direkt einzugreifen. Peking nahm sich die Immobilienfirmen sogar früher vor als den Technologiesektor, gegen den die Regierung seit einigen Monaten ebenfalls vorgeht*. Bereits im August 2020 riefen die Behörden nach einem Bericht der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua 12 Immobilienriesen zu sich, um sie zum Abbau ihrer Schulden zu drängen. Kurz darauf verabschiedete Peking die so genannten „drei roten Linien“:
- Die Nettoverschuldung von Immobilienfirmen darf maximal 100 Prozent des Eigenkapitals betragen.
- Die gesamten Verbindlichkeiten dürfen bei höchstens 70 Prozent des Wertes aller Anlagegüter einer Firma liegen.
- Jedes Unternehmen muss liquide Mittel mindestens in Höhe seiner kurzfristigen Schulden vorhalten.
Die Blase platzte daraufhin zwar nicht. Doch das politische Eingreifen Pekings kühlte den Markt merklich ab. Es zeigte, dass die Kommunistische Partei* und der Staat das letzte Wort haben. Die Preise steigen derzeit nur noch langsam, die Verkäufe stagnieren oder fallen – nach einem kurzen Hype zum Ende der Pandemie. „Die Nachfrage nach Wohnimmobilien in China tritt in eine Ära des anhaltenden Rückgangs ein“, erwartet Mark Williams.
Evergrande konnte neue Anforderungen nicht erfüllen
Evergrande erfüllte die „roten Linien“ schon 2020 nicht. Es konnte zur Begleichung fälliger Schulden also keine Anleihen mehr ausgeben – was es bis dato immer wieder getan hatte. Der Konzern hat durch seine auf Pump finanzierte Expansion der vergangenen Jahre einen Schuldenberg von umgerechnet rund 260 Milliarden Euro angehäuft*. Seit September 2021 hat Evergrande immer wieder Deadlines für Zinszahlungen oder Schuldentilgung verstreichen lassen. Auch zwei andere Immobilienentwickler, Fantasia und Modern Land, konnten zuletzt ihre Schulden nicht mehr bedienen. Ob noch weitere Firmen in Schieflage geraten sind, ist bisher unklar.
Das Risiko einer Ansteckung für die chinesische Wirtschaft „beherrschbar“, sagte dennoch Zentralbanksprecher Zou Lan* am Freitag. Evergrande sei „sehr schlecht geführt“ worden und habe „blind“ expandiert. Die Behörden drängen Evergrande laut Zou jetzt dazu, „Geschäftsteile zu verkaufen und die Übergabe von Baustellen zu beschleunigen.“ Kommunen würden im ganzen Land angewiesen, angefangene Evergrande-Wohnanlagen fertigzubauen, heiß es aus informierten Kreisen in Peking. Laut einer von CNN zitierten Analyse der Bank of America hat Evergrande 200.000 Wohneinheiten verkauft, die noch nicht an Käufer übergeben wurden; der Verkauf unfertiger Wohnung ist in China absolut üblich*.
Trotz allem hält Zentralbanksprecher Zou Lan den Immobiliensektor aber generell für gesund. Ob er recht hat, wird sich in ein paar Monaten zeigen. Diese sind nach Ansicht vieler Experten entscheidend darüber, wie sehr die Evergrande-Krise der chinesischen Wirtschaft schaden wird. (ck) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.