Riesiger Corona-Schuldenberg stellt EU-Staaten vor Zerreißprobe - Das sind die Positionen

Zur Bekämpfung der Corona-Krise haben die EU-Staaten die vereinbarte Schuldenbremse außer Kraft gesetzt. Das weitere Vorgehen spaltet Nationen. Wo steht Deutschland?
Berlin/München - Die Corona-Pandemie stellt Europas Nationen vor eine gewaltige finanzielle Herausforderung. In Folge der staatlichen Subventionen hat die EU ihre Schuldenregeln vorerst ausgesetzt, weil Mitgliedsländer wie Deutschland, Frankreich und Co. Milliardensummen für Bürger, Wirtschaft und Industrie aufgewendet haben. Demzufolge ist auch die Staatsverschuldung von Ländern wie der Bundesrepublik drastisch gestiegen*. Um den Wiederabbau dieser Verpflichtungen ist ein heftiger Streit entbrannt, der auch die Mitgliedsstaaten spaltet.
Das wurde bei dem letzten Finanzministertreffen vor der Bundestagswahl* am 10. September deutlich. Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) ist dabei in der Zwickmühle. Wir beantworten die wichtigsten Antworten zu einem Thema, das sich gewaltig auf die EU-Staaten und deren Bürger auswirken kann.
Schuldenbremse der EU: „Kampf“ der Nationen um Lösung der Misere
Worum geht es? In der Corona-Krise hat die EU 2020 erstmals den Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgesetzt, der für ausgeglichene Haushalte in den Mitgliedsländern sorgen soll. Die sogenannten Maastricht-Kriterien sehen eine Neuverschuldung von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vor, wenn die EU-Länder kein Defizitverfahren riskieren wollen. Die Gesamtverschuldung soll nicht höher sein als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Was ist das Problem? Um einen wirtschaftlichen Absturz zu vermeiden, haben sich alle EU-Länder in der Pandemie massiv verschuldet, so auch Deutschland*. Finanzminister Scholz etwa plant im kommenden Jahr eine gigantische Neuverschuldung von fast 100 Milliarden Euro. Dafür muss er sogar eine Ausnahmeklausel der Schuldenbremse im Grundgesetz nutzen. Über den Abbau dieser Schuldenberge zeichnet sich in Europa „ein enormer politischer Kampf“ ab, wie ein EU-Vertreter warnt.
Wo laufen die Konfliktlinien? Frankreich, Italien und andere Mitgliedstaaten wollen eine Lockerung des EU-Stabilitätspakts erreichen. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire nannte die Schuldenregeln in Slowenien „obsolet“, seine spanische Kollegin Nadia Calviño plädierte für ihre „Anpassung an die Realität“. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte die Drei-Prozent-Defizitregel kürzlich als Vorgabe „aus einem anderen Jahrhundert“ kritisiert. Macron will investieren und blickt dabei auf die französische Präsidentschaftswahl* im April.
Schuldenbremse und Corona: Mittelmeerländer vs. konservativer Norden
Warum sind besonders Mittelmeerländer betroffen? Dort hat die Corona-Krise besonders tiefe Löcher in die Haushalte gerissen, da mit dem Tourismus eine der Haupteinnahmequellen wegfiel. So hat Griechenland mit alten Verpflichtungen aus der Finanzkrise einen Schuldenberg von mehr als 200 Prozent der Wirtschaftsleistung angehäuft, Italien kommt auf fast 160 Prozent, Spanien und Frankreich auf fast 120 Prozent. Aber auch die Eurozone insgesamt liegt mit durchschnittlich fast 100 Prozent deutlich über der 60-Prozent-Grenze.
Wer stemmt sich den Südländern entgegen? Eine Gruppe sogenannter „sparsamer“ Staaten will das Aushöhlen des Stabilitätspakts verhindern. Sie fürchten, für die hohen Schulden der Südländer zur Kasse gebeten zu werden. Österreich, die Niederlande, Schweden und fünf weitere Länder verlangten deshalb in einem Brandbrief, der „Abbau exzessiver Schulden“ müsse Ziel bleiben. Neue Vorschläge dürften „die Eurozone und die Union insgesamt nicht gefährden“.
Deutschland und die Schuldenbremse: Kanzlerkandidat Scholz in der Zwickmühle?
Wie positioniert sich Deutschland? Scholz warb in Slowenien für eine Position der „Mitte“. Er lobte, die Schuldenregeln hätten in der Corona-Krise „ihren Praxistest bestanden“ und ihre „Flexibilität“ bewiesen. Doch Scholz ist als SPD-Kanzlerkandidat in einer Zwickmühle: Er muss sich einerseits gegen Vorwürfe im Wahlkampf wehren, er steuere auf ein Linksbündnis und eine europäische „Schuldenunion“ zu, wie ihn nun Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU)* erhob. Deshalb wies Scholz die Forderungen der Mittelmeerländer zurück - wohl wissend, dass er im Fall eines Wahlsiegs einen Kompromiss mit dem engsten Partner Frankreich suchen muss.
Welche Rolle spielt die Bundestagswahl? Die künftige deutsche Haltung hängt maßgeblich davon ab: Sollte der neue Finanzminister etwa Christian Lindner (FDP) heißen, würde die Regierung vermutlich einen strammen Sparkurs für Europa fordern. Sollte dagegen Robert Habeck (Grüne) das Amt übernehmen, könnte dies eine ausgabenfreundliche Haltung bedeuten, etwa für den Klimaschutz. Bei welcher Partei droht der Steuer-Schock? Parteien von Grüne bis Union im Check.
Wie geht es weiter? Die Kommission will die EU-Regierungen und Zentralbanken anhören, bevor sie im Herbst einen Reformvorschlag macht - nach der Bundestagswahl.
Im Merkur-Interview spricht Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock über Koalitionsoptionen und teilt gegen FDP, Union und Linke aus. Außerdem äußert sie sich zu einer Reform der Schuldenbremse. (PF/AFP) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA