Diese junge Deutsche verdiente als Bankerin 100.000 Euro - doch sie wollte nur weg

Anne-Kathrin Oelmann hat in London bis zum Umfallen als Investmentbankerin gearbeitet. Ihr Einstiegsgehalt: 100.000 Euro. Doch sie schmiss hin. In ihrem Gastbeitrag hat sie eine Botschaft an uns alle.
Berlin - Es ist Samstagmorgen, 5 Uhr, ich stehe schweißgebadet hinterm DJ-Pult des berühmt-berüchtigten KitKat Clubs in Berlin. Der Track, den ich gerade spiele, hat einen Break-down und entwickelt sich langsam zu einem neuen Höhepunkt - mit einem breiten und neckischen Lächeln schaue ich auf die volle Tanzfläche, drehe an den Reglern, zögere den Höhepunkt soweit es geht hinaus; sobald der Bass wieder mit voller Wucht einschlägt, drücke ich den „Feuerknopf“, der Drache am Ende des Raumes speit Feuer. Die Tanzfläche tobt, Hände schnellen in die Luft, Leute lachen und tanzen ausgelassen – eine Explosion an Energie. Eine Welle der Euphorie überkommt mich – für diese Momente lebe ich, dies ist meine Leidenschaft; und ich kann es kaum glauben, dass es auch mein Job ist. Das war nämlich nicht immer so.
Vor genau zehn Jahren begann ich in London meine Arbeit als Analyst im Investmentbanking bei Merrill Lynch, im Team für „Distressed Debt and High-Yield Bonds“, dem Handel mit notleidenden Krediten. Ich hatte zuvor an einer renommierten deutschen Privat-Uni BWL studiert, mich auf Finanzen spezialisiert, sogar bereits ein Praktikum im gleichen Team absolviert. Ich war 22 und mein Einstiegsgehalt (Grundgehalt plus sicherem Bonus) lag bei umgerechnet 100.000 Euro. Ich war stolz und beflügelt, denn ich hatte mein Ziel erreicht. So dachte ich zumindest.
Schon nach ein bis zwei Monaten stellte sich langsam aber sicher ein neues Gefühl ein, das mir sagte: Ich bin hier irgendwie falsch. Ich fühlte mich unverbunden mit der Arbeit und meinen Kollegen; die Werte „Geld“ und „Erfolg“, die alle verfolgten, schienen mich nicht zu motivieren. Ich fühlte mich gefangen und lethargisch; jeden Tag konnte ich es nicht abwarten, endlich die Bank zu verlassen und mich meinem Privatleben zu widmen.
Denn außerhalb der Bank wurde ich angesteckt von Londons kultureller und musikalischer Vielfalt; ich schien plötzlich all das aufzusaugen, was ich in meiner leistungsfokussierten Studentenzeit verpasst hatte. Ich wohnte in einer 7er-WG mit coolen jungen Leuten, besuchte abends oft Live-Konzerte. Ich hoffte, die zwei gegensätzlichen Leben vereinen zu können: tagsüber zielstrebige Businessfrau, abends alternative Indie Rock-Chick. Doch es wurde immer schwieriger, denn ein Gegner wurde immer größer: Schlafmangel.
Nach drei bis vier Monaten war ich erschöpft, der Konflikt wurde unerträglich und ich wusste, ich würde mich entscheiden müssen: Karriere oder Freiheit. Ich entschied mich für Freiheit.
Im Februar 2007 kündigte ich, als Einzige meines Rekrutierungsjahrgangs von 200 Leuten. Zu dem Zeitpunkt wägten sich die Bank und mein Team noch in großem Erfolg (Nebenbemerkung: nur ein paar Monate später brach die Wirtschaftskrise ein und Merrill Lynch wurde von der Bank of America übernommen), sodass alle ungläubig mit dem Kopf schüttelten.

So wurde ich zum Chef meines Chefs gerufen – er hatte erfahren, dass ich nun eine künstlerische Tätigkeit verfolgen wollte und sagte zu mir: „But look at all your colleagues – they earn so much money! Why don’t you stay a few years and then buy your own art gallery?“
Ich danke ihm noch heute für diesen Satz – denn er verkörpert alles, wovon ich mich entfernen wollte.
Denn ein Blick auf meine Kollegen bestätigte das Gegenteil: Die meisten waren über 40, hatten teure Häuser, anspruchsvolle Frauen, Kinder auf Privatschulen – kurz: Sie waren gefangen im goldenen Käfig.
Ich hingegen war nun frei – es war ein unheimliches Glücksgefühl.
Die nächsten Jahre waren ein stetiges Auf und Ab. Ich gründete meine eigene Band und hielt mich mit Teilzeitjobs über Wasser – es war finanziell nicht immer einfach. Wenn man als ehemalige Investmentbankerin zum Mindestlohn im Topshop arbeitet, fühlt man sich dann doch mal unter Wert verkauft.
Aber niemals habe ich meine Entscheidung bereut, denn ich besaß nun mein höchstes Gut: Freiheit und komplette Selbstbestimmung.
Heute – einige Jahre, viele verschiedene Jobs und ein Umzug nach Berlin später – habe ich nun mein „neues“ Ziel erreicht: Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht und bin nun ausschließlich DJane. Ich „arbeite“ nur wenige Stunden pro Woche, lege in bekannten Clubs auf, komme viel rum und kann auch noch davon leben.
Und das größte Glück: Ich muss mich nicht mehr verstellen, denn mein berufliches und mein privates Ich sind zu derselben Person verschmolzen: Jetzt bin ich nur noch Annie O.
Ein Gastbeitrag von Annie O.
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