EZB: Worauf es bei der Inflationsbekämpfung ankommt

Im Kampf gegen die Inflation stand die Europäische Zentralbank (EZB) wegen ihrer zögerlichen Haltung lange in der Kritik. Jetzt hat die EZB endlich reagiert. Doch einfacher wird es angesichts einer drohenden Rezession für die Notenbank nicht, warnt der ehemalige Wirtschaftsweise Prof. Volker Wieland im Gastbeitrag.
Frankfurt - Aktuell neun Prozent Inflation in Euroland, zwischen zwölf und 23 Prozent in osteuropäischen Mitgliedsstaaten, und auch in Deutschland wird im Winter vielleicht noch die Zehn-Prozent-Marke geknackt. Das hatten wir in der Bundesrepublik noch nie. Im Dezember 1973 war bei 7,9 Prozent Schluss. Jetzt aber stemmt sich endlich die Europäische Zentralbank (EZB) mit einem vielfach als „historisch“ bezeichneten Zinsschritt gegen die Inflation. Das ist die Wende. Die Notenbanker haben die Inflation wieder unter Kontrolle. Wirklich? Wohl kaum.
Klar, die EZB hat die Zinsen so stark erhöht wie noch nie und alle drei Zinssätze um 75 Basispunkte angehoben. Damit liegt der Hauptrefinanzierungssatz bei 1,25 Prozent und der Spitzenrefinanzierungszins bei 1,50 Prozent. Die Lage am Geldmarkt wird allerdings durch den Einlagezins der Banken bei der EZB von 0,75 Prozent bestimmt.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Zur Erinnerung: Die Wahrung der Preisstabilität ist die vorrangige Aufgabe der Notenbank. Welche Bedeutung stabile Preise haben, war im Bewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher im Euroraum über die Jahre aufgrund der niedrigen Inflation nahezu in den Hintergrund getreten. In den Jahren 2020 und 2021 stellte die EZB in einer Strategieüberprüfung ihre Ansätze und Leitlinien auf den Prüfstand. Das Hauptaugenmerk lag auf der Gefahr, dass die Inflation zu niedrig ausfallen könnte. Zudem befasste sich die EZB mit allerlei Themenfeldern und beschloss, künftig Klimaschutzaspekte stärker in den geldpolitischen Handlungsrahmen einfließen zu lassen.
EZB: Steigende Inflationsrisiken seit über einem Jahr
Unterdessen stieg die Inflation nach der Corona-Krise deutlich an. Kein Wunder, denn das Güter- und Dienstleistungsangebot war vorübergehend eingebrochen, während Staaten und Notenbanken weitreichende Maßnahmen zur Stützung der Nachfrage ergriffen. Wenn viel Nachfrage auf wenig Angebot trifft, steigen die Preise. Hinzu kamen anhaltende Engpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten aufgrund der hohen Nachfrage nach langlebigen Wirtschaftsgütern. Bereits im Frühjahr und Sommer 2021 war ersichtlich, dass die Inflationsrisiken zugenommen hatten. Viel zu spät hat die EZB erkannt, dass die Inflation kein temporäres Phänomen ist. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine legte die Teuerung auf ungeahnte Höhen zu: Im Euroraum, der für die EZB in seiner Gesamtheit maßgeblich ist, erklomm die Inflation Monat für Monat neue Rekordwerte und erreichte im August die Marke von 9,1 Prozent.
An Inflationsraten von zuletzt 7,9 Prozent in Deutschland kann sich hierzulande nur noch die ältere Generation erinnern, als infolge des Jom-Kippur Kriegs und Ölembargos die Inflation im Winter 1973 so hoch anstieg. Damals hat sich die Bundesbank gegen die Inflation gestemmt und die Zinsen steigen lassen. Infolgedessen überschritten die Nominalzinsen die Inflationsrate deutlich, und zwar über einen längeren Zeitraum. So konnten in Deutschland zweistellige Inflationsraten im Gegensatz zu allen anderen G-7 Staaten vermieden werden.
EZB: Geldpolititk bleibt trotz Zinsschritt expansiv
Die Geldpolitik der EZB bleibt trotz des vermeintlich historischen Zinsschritts weiterhin sehr expansiv. Die Realzinsen – also die Zinsen bereinigt um die Inflation – sind weiterhin tief negativ und stützen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Selbst die um Energiepreise bereinigte Inflation beträgt inzwischen 5,8 Prozent. Am Derivatehandel lassen sich Inflationserwartungen von durchschnittlich 3 bis 4 Prozent über die kommenden drei Jahre ablesen. Dagegen rechnet der Markt nur mit einem Anstieg der Notenbankzinsen auf etwa 2,5 Prozent. Die reale Verzinsung bliebe damit also weiterhin negativ.
Inflation: Glaubwürdigkeit der EZB steht auf dem Spiel
Umfragen der Deutschen Bundesbank zeigen zudem, dass die Inflationserwartungen von Privatpersonen stark gestiegen sind. Das heißt, die Menschen haben ihre Zuversicht verloren, dass die EZB mittelfristig für stabile Preise sorgen kann. Hier droht die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen vom eigentlichen Inflationsziel abkoppeln und damit das höchste Gut einer Notenbank auf dem Spiel steht: ihre Glaubwürdigkeit.
Der EZB-Rat wird es schwer haben. Er muss sich einig werden, die Zinsen im Lauf der nächsten Monate Schritt für Schritt noch deutlich mehr anzuheben. Aber wenn die Energiepreise einmal aufhören zu steigen, wird die Inflationsrate auf die Kerninflationsrate zurückfallen. Dann werden viele den „Erfolg“ erklären wollen, statt durchzuhalten, bis tatsächlich die Kerninflation wieder gesunken ist.
Im Winter droht eine Rezession
Mit den hohen Energiepreisen kommt im Winter eine Rezession auf uns zu. Schon jetzt werden Stimmen laut, die EZB müsse dann die Zinserhöhung stoppen und Zinsen senken. Aber die Rezession allein wird die Inflation nicht beenden. Bereits jetzt stützen gut gemeinte Entlastungspakete wie die der Bundesregierung die Nachfrage und wirken letztlich inflationär. Umfragen unter Unternehmen zeigen, dass Arbeitskräfte knapp sind und bleiben. Lohnforderungen auf Inflationsausgleich plus werden zumindest teilweise befriedigt werden müssen, und zu weiteren Preiserhöhungen führen.
Die Knappheit an Energie kann die EZB nicht beheben. Zwar hätte die Bundesregierung das Energieangebot perspektivisch deutlich erhöhen können: zum Beispiel, wenn sie – wie etwa Belgien – beschlossen hätte, alle verfügbaren Kernkraftwerke weitere zehn Jahre zu nutzen, oder wenn sie – wie wir das von den USA erwarten – einen Ausbau der eigenen Gasförderung durch Fracking erlaubt hätte. Stattdessen wird die Knappheit verschlimmert.
Der EZB-Rat hat noch einen langen Weg vor sich, um die Inflation wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Zum Autor: Prof. Volker Wieland ist Stiftungsprofessor für Monetäre Ökonomie und Geschäftsführender Direktor des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) an der Goethe-Universität Frankfurt. Wieland hat an der US-Eliteuni Stanford promoviert und arbeitete danach für die US-Notenbank. Zwischen März 2013 und April 2022 gehörte der Experte für Geldtheorie und Geldpolitik dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an. Zum Monatsende hat Wieland das Gremium verlassen.