Labiler Wirtschaftspatient: England kriselt weiter
London - Der englische Patient wird nicht gesund. England hat die Wirtschaftskrise schwer zu schaffen gemacht. Neidisch blicken die Briten derzeit auf die anderen großen Volkswirtschaften in der Welt.
Ob Deutschland, Frankreich, Japan oder die USA: Die mächtigen Wirtschaftsnationen schaffen nach der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg die Wende und melden nach einer langen Rezession mittlerweile wieder Wachstum. Nur Großbritannien hinkt den führenden Volkswirtschaften noch immer hinterher. Das Bruttoinlandsprodukt im Königreich schrumpfte im dritten Quartal um 0,3 Prozent. Sechs Minus-Quartale in Folge - das ist die längste Durststrecke seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1955 und ein Dämpfer für Premierminister Gordon Brown.
Der angeschlagene Regierungschef will in wenigen Monaten eine Wahl gewinnen. Laut Umfragen hat er zwar kaum Aussicht auf Erfolg, aber er hofft immer noch, dass die Konjunktur anspringt und er mit dem wirtschaftlichen Rückenwind noch einmal in Downing Street Nummer 10 einziehen darf.
Einstiger Erfolgsgarant ist jetzt Konjunkturbremse
Aber ausgerechnet die einstigen Erfolgsgaranten der britischen Wirtschaft erweisen sich nun als Konjunkturbremse. Viele Jahre hatten Bankenbranche, Immobilienmarkt und Dienstleistungssektor der britischen Wirtschaft stabile saftige Gewinne beschert. Von 1992 bis 2007 wuchs die Wirtschaft in jedem Quartal. Vollmundig sprach Brown von einem permanenten Wachstum und dem Ende von “boom and bust“ - also den Zyklen von Aufschwung und Abschwung.
Selbst in der Krise verbreitete der Premier weiter Optimismus: Als die ganze Welt in die Rezession gestürzt war, behauptete Brown, dass das Königreich besser als alle anderen Länder gegen den ökonomischen Sturm gewappnet sei und auch wieder vor allen anderen den Wachstumspfad einschlagen werde.
Doch auch hier irrte Brown, der als langjähriger Finanzminister unter Premierminister Tony Blair für die umstrittene Deregulierung des Finanzplatzes London mit verantwortlich war. Die Krise zeigte schonungslos die Schwäche des britischen Wirtschaftssystems auf. Über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hängen am Dienstleistungssektor. Die Industrie trägt nur noch 16 Prozent bei - Tendenz fallend. Die Landwirtschaft spielt mit zwei Prozent kaum noch eine Rolle.
England kommt nicht in Tritt
Anders als in Deutschland mit seinem starken verarbeitenden Gewerbe fehlte Großbritannien somit eine weitere kräftige ökonomische Säule. Als die Banken kollabierten, kam es zu einer Kettenreaktion. Sie rissen Unternehmensberatungen, Versicherungen, Wirtschaftsprüfer oder Juristen mit in den Strudel. Sie stoppten die Kreditvergabe und ruinierten damit andere Unternehmen. Zugleich platzte die Immobilien- Blase im Königreich, wo rund 70 Prozent der Menschen in den eigenen vier Wänden leben.
Nun sorgt das fehlende zweite Standbein dafür, dass Großbritannien auch beim Weg aus der Rezession nicht in Tritt kommt. Zwar erwarten Experten und vor allem auch Brown, dass die Trendwende im letzten Quartal des Jahres kommt. Doch selbst dann droht der Wirtschaft neues Ungemach: Denn egal, ob die Labour-Partei oder die Konservativen mit Parteichef David Cameron den nächsten Premierminister stellen, angesichts eines massiven Schuldenbergs wird die neue Regierung nicht umhinkommen, Steuern zu erhöhen oder öffentliche Ausgaben massiv zu beschneiden.