1. Startseite
  2. Wirtschaft

Das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells

Erstellt:

Von: Ludovic Subran

Kommentare

Ludovic Subran ist Chef-Volkswirt der Allianz.
Ludovic Subran ist Chef-Volkswirt der Allianz. © N. Bruckmann/M. Litzka/Allianz

Der Erfolg der deutschen Wirtschaft fußte viele Jahre auf offenen Märkten und günstiger Energie aus Russland. Doch mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs und den wankenden Lieferketten wegen Corona wachsen die Fragezeichen, schreibt Allianz-Chefvolkswirt Ludovic Subran im Gastbeitrag.

München - Der brutale Überfall auf die Ukraine ist eine weltgeschichtliche Zäsur, wie wir sie zuletzt vor über 30 Jahren mit dem Fall der Mauer erlebt haben. Während sich die damalige Zeitenwende jedoch mit hochfliegenden Erwartungen auf eine bessere Welt verband – die zum Teil ja auch eingelöst wurden –, steht der heutige Krieg für das Ende genau dieser Hoffnungen.

Die Idee einer regel-basierten globalen Ordnung aus liberalen und pluralistischen Gesellschaften – das Ende der Geschichte – hatte schon vorher tiefe Risse bekommen; am deutlichsten zeigten sie sich in der zunehmenden Rivalität zwischen China und den USA. Dennoch hielten viele in Politik und Wirtschaft bis zuletzt an dieser Illusion fest. Der Ukraine-Krieg* hat sie schmerzvoll zerstört.

Ukraine-Krieg: Atomare Bedrohung wieder real

Die Welt steht vor einer neuen Epoche der geopolitischen Konfrontation. Damit werden Erinnerungen an den „Kalten Krieg“ des vorigen Jahrhunderts wach, einschließlich der atomaren Bedrohung: Die Möglichkeit eines Atomkriegs ist plötzlich wieder ein Risiko, mit dem gerechnet werden muss. Aber auch die Unterschiede sind nicht zu übersehen: Gerungen wird nicht nur um politische und ideologische Hegemonie, sondern auch um informationelle und technologische Dominanz. Und mit China tritt ein neuer, machtvoller Spieler auf. Die neue Zeit erschöpft sich also keineswegs in der Wiederkehr des Bekannten und überwunden geglaubten; ihre Konturen lassen sich noch nicht klar erkennen.

Stimme der Ökonomen

Klimawandel, Lieferengpässe, Corona-Pandemie: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?

In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen* liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen ab sofort Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.

Zweifellos werden sich aber auch die Beziehungen in der Weltwirtschaft grundlegend verändern. Handelsbeziehungen, Energielieferungen, internationale Wertschöpfungsketten und technologische Abhängigkeiten: alles kommt auf den Prüfstand. Wohl kaum ein anderes Land wird davon so stark betroffen werden wie Deutschland, wo sich zwei Phänomene überlagern: Sein Wirtschaftsmodell ist in hohem Maße von offenen, globalen Märkten abhängig – und Energie aus Russland.

Ukraine-Krieg offenbart Deutschlands Abhängigkeit von russischer Energieversorgung

Insgesamt beträgt der Anteil russischer Energieträger (Gas, Öl und Kohle) am finalen Energieverbrauch in Deutschland 19 Prozent; in Frankreich oder Spanien liegt er dagegen nur bei vier Prozent bzw. drei Prozent. Von den großen europäischen Volkswirtschaften hat nur Italien (17 Prozent) eine vergleichsweise hohe Abhängigkeit von Russland; zugleich ist die italienische Wirtschaft aber weniger exportlastig und weniger stark in die internationale industrielle Arbeitsteilung eingebunden.

Lieferketten-Probleme treffen Deutschland besonders stark

Keine Frage: Deutschland hat lange Zeit von seinem Modell profitiert. Mit der Corona*-Krise sind jedoch erstmals auch dessen Schattenseite in den Vordergrund getreten. Kaum ein anderes Land hat unter dem Stress der internationalen Zulieferketten so stark gelitten wie Deutschland: 2021 blieb das Wirtschaftswachstum hierzulande deutlich hinter dem der anderen großen Wirtschaftsnationen zurück; lediglich Japan schnitt noch schlechter ab (siehe Schaubild). In diesem Jahr droht sich dieses Bild zu wiederholen. Denn während alle gleichermaßen unter hohen Energie- und Rohstoffpreisen leiden und die steigende Inflation die Hoffnungen auf einen Nachfrageboom nach dem Ende aller Corona-Restriktionen zunichtemacht, wiegen in Deutschland darüber hinaus die weiterhin ungelösten Probleme in der globalen Wertschöpfung besonders schwer.

Dabei spielen nicht nur die Verwerfungen des Ukraine-Krieges eine Rolle, sondern auch die Zero-Covid-Politik Chinas, die zu wiederkehrenden Lockdowns führt und so die internationalen Warenströme durcheinanderwirbelt. Wir erwarten daher in unserem Basisszenario, d.h. ohne die Annahme eines weitreichenden Öl- und Gasembargos, dass Deutschland 2022 nur um 1,8 Prozent wachsen wird. Es wäre damit das Schlusslicht unter den großen Sieben.

Was folgt daraus für Deutschland? Sicherlich nicht eine Abkehr von der Globalisierung; nationale Autarkie-Bestrebungen sind schlicht töricht. Aber es gilt einseitige Abhängigkeiten abzubauen. Die Lehre aus dem Reißen von Zuliefernetzen sollte sein, das Netz in Zukunft noch engmaschiger zu knüpfen, mit Dopplungen an neuralgischen Stellen. Vor allem aber muss sich die deutsche Wirtschaft von der Illusion „rein“ privatwirtschaftlicher Projekte befreien; in der neuen Zeit muss das Politische immer mitgedacht werden: Strategisches Denken ist gefragt. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Beziehungen zu Europa.

Ukraine-Krieg: Europa muss noch enger zusammenrücken

Der Krieg hat in Europa zu einem neuen Zusammenhalt geführt; die Rede von der europäischen Souveränität ist über Nacht zur Schlüsselfrage für Frieden und Freiheit geworden. Die neue Gemeinsamkeit sollte sich jedoch nicht allein im Politischen und Militärischen erschöpfen. Ebenso wichtig ist es, die Wirtschaften Europas näher zusammenzuführen. Die Maßnahmen zur Überwindung der Corona-Krise haben hier bereits neue Impulse gesetzt; insbesondere der Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“ (NGEU), mit dem erstmals in nennenswertem Umfang Schulden vergemeinschaftet wurden, ist ein Meilenstein – nicht zuletzt für die deutsche Politik. Angesichts der ungleich größeren Herausforderung, vor der Europa heute steht, wäre es zu wünschen, dass die deutsche Europapolitik nicht wieder in ihre alten Muster zurückfällt, sondern diese Entwicklung weiter couragiert vorantreibt.

Deutschland muss in den nächsten Jahren zwei Mammutaufgaben bewältigen: neben der Dekarbonisierung aller wirtschaftlichen Prozesse ist zugleich eine Neujustierung des bisher so erfolgreichen Wirtschaftsmodells erforderlich. Dies erfordert große Kraftanstrengungen von allen Beteiligten – und wird seinen Preis haben. Nach den sieben starken Jahren vor der Corona-Krise könnten nun sieben magere folgen.

Zum Autor: Ludovic Subran ist Chef-Volkswirt der Allianz SE und von Allianz Trade/Euler Hermes. Vor seinem Eintritt in die Allianz Gruppe arbeitete er für renommierte Institutionen wie das französische Finanzministerium, die Vereinten Nationen und die Weltbank. Er unterrichtet außerdem Wirtschaftswissenschaften an der HEC Business School. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

Auch interessant

Kommentare