Deutschlands Energie-Abhängigkeit: Lehren aus der Russland-Falle

Der Krieg in der Ukraine erinnert in trauriger Weise daran, dass wirtschaftspolitische Fragen nicht von sicherheitspolitischen Fragen zu trennen sind. Die Vermeidung von Abhängigkeiten steht neu im Fokus der Wirtschaftspolitik, schreibt Prof. Achim Wambach im Gastbeitrag.
Mannheim - Deutschland verliert derzeit international an Reputation. Grund dafür ist die Weigerung, einem Energie-Embargo gegenüber Russland zuzustimmen. Der Nobelpreisträger Paul Krugman nennt diese Position „beschämend“ und kritisiert die „Verantwortungslosigkeit“ der früheren deutschen Energiepolitik.
Die Bundesregierung scheut vor diesem Embargo zurück, da sie massive Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft erwartet – Deutschland hat sich von russischen Energielieferungen zu abhängig gemacht. Krisenmanagement ist notwendig, und hektische Schritte zur Reduktion der Abhängigkeit werden unternommen. Was kann zukünftig besser gemacht werden?
Corona-Pandemie ändert wirtschaftspolitisches Denken
Deutschland lebte lange und gut in dem Glauben, dass Wirtschaftspolitik und Sicherheitspolitik unabhängige Politikbereiche seien, bzw. dass gerade der Handel zur Stabilität beitrage. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher brachte dies schon 1987 so auf den Punkt: „Der Außenhandel hat eine eminent friedenssichernde Funktion.“
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Lieferengpässe, Corona-Pandemie: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen* liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen ab sofort Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Die internationale Ausrichtung der Wirtschaft und die Liberalisierung der Energiemärkte bringen Wohlstand, machen diese aber verletzlicher. Diese Einsicht ist nicht völlig neu. Seit einigen Jahren, bedingt durch insbesondere das Dominanzstreben Chinas, mehren sich die Rufe nach einem „souveränem Europa“, das weniger von Drittstaaten abhängig sein soll.
Einen ähnlichen Effekt auf das wirtschaftspolitische Denken hatten auch die in der Corona-Pandemie erlebten Unterbrechungen von Lieferketten, als deren Folge Güter wie etwa Masken und Impfstoffe in bestimmten – teilweise entscheidenden – Momenten knapp waren. In diesem Kontext wurden Fragen der Resilienz, das heißt der Widerstandsfähigkeit des Systems, neu gestellt.
Energie-Embargo: Europa soll souveräner werden
Ein Ansatz zu mehr Souveränität ist es, Produktion nach Europa zu verlagern. Der Ausbau erneuerbarer Energie in Europa reduziert die Notwendigkeit, auf Energieträger aus Drittstaaten außerhalb Europas zuzugreifen. Die Produktion von Halbleitern, die derzeit sehr nachgefragt sind, will die EU-Kommission stärker in Europa ansiedeln. Dazu wurde das Chip-Gesetz verabschiedet, dass es den Staaten erlaubt, Investitionen in Produktionsstätten mit Subventionen zu unterstützen. Auch die Initiative der Bundesregierung, Pandemiebereitschaftsverträge mit Impfstoffherstellern abzuschließen, um Impfstoffproduktion nach Europa zu verlagern, geht diesen Weg.
Neben der Produktion vor Ort bietet vor allem auch die Diversifizierung, also der Aufbau paralleler Lieferketten, die Möglichkeit, Abhängigkeiten zu reduzieren. Diversifizierung ist Bestandteil der Einkaufspolitik jedes Unternehmens, „dual-sourcing“ Strategien, also die Vertragsbeziehung mit zwei oder mehr Lieferanten für dieselbe Komponente, sind üblich. Fällt ein Lieferant aus, kann der andere einspringen.
Eine Konsequenz der jetzt neu im Fokus stehenden Abhängigkeiten sollte daher sein, Unternehmen diese Diversifizierungen zu erleichtern: Der Aufbau eines LNG Terminals als Infrastruktur erlaubt die Zusammenarbeit mit weiteren Lieferanten von Gas; politisch vorangetriebene Energiepartnerschaften etwa mit den Emiraten öffnen Türen für solche Geschäfte.
Bankensektor: Erfahrung im Umgang mit systemischen Risiken
Ein wichtiges Instrument sind auch internationale Handelsverträge, die Lieferbeziehungen über Grenzen vereinfachen und alternative Märkte öffnen können. Die EU sollte daher die geplanten Abkommen mit lateinamerikanischen (Mercosur) und asiatischen Staaten (ASEAN) beschleunigen. Dass etwa CETA, das europäische Handelsabkommen mit Kanada, immer noch nur provisorisch in Kraft ist, ist schwer nachzuvollziehen.
Diversifizierung durch Unternehmen ist aber nicht ausreichend, wenn es um systemische Risiken geht, die die Störung der Funktionsfähigkeit eines gesamten Systems verursachen können. Systemische Risiken sind bekannt aus der Finanzkrise 2008, in der der Zusammenbruch von Lehmann Brothers das ganze Bankensystem lahmlegte und Staaten mit massiven Hilfsprogrammen einspringen mussten. Systemische Risiken gibt es auch im Energiemarkt, wie sie etwa in Texas 2021 auftraten, als wetterbedingt die Stromversorgung für mehrere Tage unterbrochen war, was zu gravierenden Schäden führte.
Die Erfahrung im Umgang mit systemischen Risiken aus diesen Sektoren kann genutzt werden, um solche Risiken auch entlang von Lieferketten zu begegnen. Im Bankensektor wird mittlerweile von den Banken verlangt, dass sie einen „living-will“ schreiben, also schon jetzt dokumentieren, wie sie im Falle einer Insolvenz abgewickelt werden sollen.
Die Europäische Zentralbank führt regelmäßig Stresstests durch, um die Resilienz des Bankensektors zu überprüfen. Im Stromsektor setzen viele Länder auf Kapazitätsmärkte, bei denen langfristige Verträge abgeschlossen werden, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Vermeidung von Abhängigkeiten wichtiger Bestandteil der Wirtschaftspolitik
Ähnliche Überlegungen sollten in der Planung zu einer stärkeren Souveränität Europas Einzug halten: In wichtigen Feldern sollten Unternehmen nachweisen müssen, dass sie ihre Lieferketten ausreichend diversifiziert haben und dass sie, auch durch langfristige Verträge, gegen Knappheitssituationen abgesichert sind. Stresstests, etwa die Simulation eines Lieferstopps aus China, würden dazu beitragen, die Resilienz der jeweiligen Märkte zu überprüfen.
Die Vermeidung von wirtschaftlichen Abhängigkeiten ist aus sicherheitspolitischen Gründen und aus Versorgungsgründen notwendiger Bestandteil der Wirtschaftspolitik. Der Beitrag, den Unternehmen dazu leisten können, sollte dabei mehr in den Fokus der Politik rücken. Erleichterungen der Diversifizierung von Lieferketten, sowie die Übertragung der Erfahrungen aus Märkten mit systemischen Risiken können dazu beitragen, die Wirtschaft resilienter zu machen.
Zum Autor: Professor Achim Wambach ist seit April 2016 Präsident des ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Seit 2014 ist Wambach Mitglied der Monopolkommission, zwischen 2016 bis September 2020 auch deren Vorsitzender. Der Ökonom gehört außerdem dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums an, dessen Vorsitz er von 2012 bis 2015 innehatte.
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