Chemie-Industrie warnt vor russischem Gas-Embargo: „Massiver Verlust von Arbeitsplätzen“

Der Hauptgeschäftsführer des Chemie-Verbands VCI, Wolfgang Große Entrup, befürchtet für den Fall eines russischen Gas-Embargos eine Rezession in Deutschland.
München – Der Chemieverband VCI hat vor weitreichenden Folgen eines möglichen Ausfalls von russischen Energie-Lieferungen gewarnt. Sollte es im Zuge des Ukraine-Kriegs* zu einem kurzfristigen und unbefristeten Lieferstopp von russischem Gas kommen, müsse „mit einer schweren Rezession mit einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen gerechnet werden“, erklärte der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, am Dienstag gegenüber Merkur.de.
Mögliche Produktionsunterbrechungen würden zudem auch andere Industriezweige wie Landwirtschaft, Bau, Ernährung, Automobil oder Elektronik schwer treffen. „Stottert es in der Chemie oder fällt sie sogar ganz aus, wird es in den Werkshallen anderer Industriezweige sehr ruhig“, sagte der VCI-Hauptgeschäftsführer. Dieser Sekundäreffekt werde „häufig massiv unterschätzt“.
Erst am Montag hatte auch der Chemie-Riese BASF Alarm geschlagen. Bereits bei einer Halbierung der Gaslieferungen aus Russland müsse das Werk am Stammsitz in Ludwigshafen den Betrieb einstellen, sagte Konzernchef Martin Brudermühl auf einer Investoren-Veranstaltung. Alleine davon wären rund 40.000 Mitarbeiter betroffen.
Herr Große Entrup, die G7 haben am Montag die Forderung des russischen Präsidenten Putin abgelehnt, Energie-Lieferungen in Rubel zu bezahlen. Damit rückt das Szenario eines möglichen Lieferausfalls für russisches Öl und Gas näher. Wie beunruhigt sind Sie?
Es bleibt im Moment nichts anders übrig, als abzuwarten, was der Kreml tun wird. Grundsätzlich müssen wir alle sehr besorgt sein, denn ein kurzfristiger und unbefristeter Lieferstopp hätte spätestens im Herbst massive negative Auswirkungen nicht nur auf die chemisch-pharmazeutische Industrie, sondern über ihre Funktion in den Wertschöpfungsketten auf das gesamte Produktionsnetzwerk des Industrielandes Deutschland.
Ließe sich russisches Öl und Gas kurzfristig überhaupt ersetzen?
Die Chemie setzt über 14 Millionen Tonnen Naphtha (Rohbenzin), eine Fraktion von raffiniertem Erdöl, für ihre Produktion ein. Hier gibt es Möglichkeiten, einen Teil aus anderen Regionen der Welt zu beziehen. Aber ein Lieferstopp Russlands wird den Preis auf dem Weltmarkt, der sich ohnehin schon auf historisch hohem Niveau bewegt, noch weiter nach oben treiben. Bei Erdgas - ein essenzieller Rohstoff und wichtigster Energieträger für die Branche - ist das ganz anders. Hier gibt es keine kurzfristige Ersatzmöglichkeit. Die Flüssiggas-Kapazitäten auf dem Weltmarkt sind nahezu auf Jahre hinaus verplant. Außerdem hat Deutschland derzeit keine LNG-Terminals für eine Anlandung.
Was würde der Ausfall von russischem Gas für die deutschen Chemie-Unternehmen konkret bedeuten?
Die chemisch-pharmazeutische Industrie setzt rund 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff und über 99 Terawattstunden Erdgas (73 Prozent des Gesamtverbrauchs) für die Erzeugung von Dampf und Strom ein. Mit einem kurzfristig einsetzenden und länger anhaltenden Lieferausfall werden sich spätestens im Herbst Versorgungsengpässe einstellen, die auch unseren Industriezweig massiv treffen. Damit wären dann tiefe Einschnitte in das Produktionsniveau der Branche verbunden.
Welche Bereiche der chemischen Industrie wären besonders betroffen?
Nahezu die gesamte chemische Industrie. Und zwar nicht nur große energieintensive Unternehmen, sondern auch der Mittelstand. Produkte der energieintensiven Grundstoffchemie gehen als Vorleistung in die Produktion der Weiterverarbeiter innerhalb der Branche ein - zum Beispiel für die Herstellung von Kunststoffen, Klebstoffen, Lacken, Waschmitteln und Pharmazeutika. In diesen speziellen und weiteren Anwendungen sind über 1.700 mittelständische Unternehmen aktiv. Ein andauernder Lieferstopp für Erdgas wird zum Reißen dieser Wertschöpfungsketten führen.
Erste Chemie-Unternehmen haben ihre Produktion bereits eingestellt. Das gilt etwa für die Produktion von Ammoniak, einem Vorprodukt für Dünger. Sind das nur Einzelfälle oder wäre das bei einem möglichen Liefer-Ausfall für russisches Gas nur der Auftakt zu massiven Produktionseinschränkungen und -unterbrechungen in der Branche?
Bei einem kurzfristigen und über Monate anhaltenden Gasembargo sind tiefe Einschnitte in das Produktionsniveau unserer gesamten Branche zu erwarten.
Der Chef der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, hat angesichts dieses Szenarios im Deutschlandfunk gerade vor massiven Folgen für die Beschäftigten gewarnt. Wenn es keinen Ersatz für russisches Gas gebe, würde dies „über einen relativ kurzen Zeitraum Hunderttausende Arbeitsplätze kosten“. Teilen Sie diese Einschätzung?
Mit einer schweren Rezession mit einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen muss gerechnet werden. Und anders als in der Finanz- und Coronakrise würde sich Deutschland bei einer Industriekrise nicht relativ schnell wieder wirtschaftlich erholen. Bei einem Lieferausfall von Erdgas für die Chemie steht auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des ganzen Landes auf dem Spiel.

Die Chemieindustrie ist der wichtigste Lieferant von Vorprodukten für viele andere Industrie-Zweige. Welche Folgen hätte ein möglicher Produktions-Ausfall für die deutsche Industrie?
Fast alle Bereiche des modernen Lebens sind heute auf die Lösungen und Produkte unserer Branche angewiesen. Das gilt besonders im Industrieland Deutschland. Hier ist die Chemie die Mutter aller Industrien. Nahezu alle Branchen, ob Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik und Hygiene, Bauwesen, Pharma oder Elektronik, wären bei einem Produktionsausfall der Chemie von Unterbrechungen ihrer Lieferketten betroffen. Diese und viele weitere Anwendungen sind auf den Einsatz von chemischen Produkten im Herstellungsprozess angewiesen. Stottert es in der Chemie oder fällt sie sogar ganz aus, wird es in den Werkshallen anderer Industriezweige sehr ruhig und die Fließbänder stehen still. Dieser Sekundäreffekt wird häufig massiv unterschätzt.
Der Bund hat auch während der Corona-Pandemie großzügig Unterstützung für die Wirtschaft bereitgestellt. Auch wegen der Ukraine-Krise gibt es nun entsprechende Überlegungen. Sollte es also tatsächlich zu einem Lieferstopp für russisches Öl und Gas kommen: Was wäre aus Ihrer Sicht sinnvoll, um die Folgen für die Unternehmen zu mildern und möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten?
Unterstützungsmaßnahmen werden vom Staat in diesem Fall zwingend notwendig sein. Besonders der energieintensive Mittelstand leidet aktuell unter den dramatisch gestiegenen Energiepreisen. Dieser exogene Schock führt schon jetzt in vielen mittelständischen Unternehmen zu massiven finanziellen Schwierigkeiten. Eine Insolvenzwelle im Mittelstand würde zu einer erheblichen Veränderung und Schwächung der Industriestruktur in Deutschland führen. Ein dauerhafter Wohlstands- und Wachstumsverlust wäre vorprogrammiert. Deshalb muss der Bund in einem solchen Fall kurzfristig finanzielle Überbrückungshilfen zur Verfügung zu stellen, wenn er einer dauerhaften Schwächung der industriellen Basis begegnen will. Diese Überbrückungshilfen sollten an klare Kriterien, wie die Betroffenheit von den dramatisch gestiegenen Energiekosten, Ausfall von Lieferketten oder Betroffenheit von den Sanktionen geknüpft werden.
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